ST - TOS 101: Feuertaufe: McCoy - Die Herkunft der Schatten
einer Hand an der Wand ab, für den Fall, dass der Zug eine unerwartete Bewegung machte. Hier und da schien Licht durch die schmalen Schlitze zwischen den waagerecht montierten Latten, die die Wände bildeten. Durch eine breitere Öffnung zwischen der Wand und dem Türrahmen konnte McCoy das Grün der Landschaft erkennen, die der Zug durchquerte. Er zwängte seine Finger in eine Öffnung und hob den Riegel an. Dann nahm er ein Stemmeisen, platzierte sich so, dass er nicht das Gleichgewicht verlieren würde, und drückte die Tür auf, die daraufhin geräuschvoll nach rechts glitt. Dahinter erwartete ihn die blendende Helligkeit des Morgens.
Er blinzelte, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, und wurde dann mit einer herrlichen Aussicht belohnt. Der Zug fuhr an der Seite eines relativ flachen Hügels entlang, unter dem sich ein weites grünes Tal erstreckte. Bäume und andere Pflanzen bedeckten den Abhang. Zwischen ihren Blättern hing noch der Morgennebel wie eine auf die Erde gekommene Wolke. Weiter unten im Tal erstreckten sich links und rechts saftige Wiesen, durch die ein kurviger funkelnder Bach floss.
»Hey, Kumpel, was soll’n das?« Die laute, barsche Stimme erschreckte McCoy, und er drehte sich hastig in ihre Richtung um. Sie kam vom anderen Ende des Wagens. Das Licht von draußen erhellte diesen Bereich nur zum Teil, doch McCoy konnte die Form zweier Beine ausmachen, die auf dem Boden aus der Dunkelheit ragten. Offenbar hatte sich in der Nacht noch jemand in den Güterwagen geschlichen, nachdem McCoy bereits eingeschlafen war.
»Tut mir leid«, sagte McCoy und hob die Stimme, um gehört zu werden. »Ich wusste nicht, dass hier drinnen noch jemand ist.« Er griff nach der Tür und zog sie fast vollständig zu, sodass nur noch ein schmaler Streifen Licht in die Mitte des Wagens fiel. Nun konnte er seinen Gesprächspartner erst recht nicht mehr sehen. McCoy spürte jedoch eine Bewegung, und einen Augenblick später stand plötzlich ein großer Mann vor ihm. Er widerstand dem Drang, vor der imposanten Erscheinung zurückzuweichen.
»Wohin geht’s?«, fragte der Mann. Er sprach langsam und undeutlich, und selbst aus mehreren Schritten Entfernung konnte McCoy den Alkohol in seinem Atem riechen.
»Atlanta«, erwiderte McCoy. Es war ihm zwar nicht angenehm, Informationen über sich preiszugeben, aber er wollte auch nicht zu lange mit einer Antwort warten. Obwohl der Mann kaum zu erkennen war, strahlte er eine gewisse Bedrohlichkeit aus. McCoy wusste, dass er in seiner Gegenwart vorsichtig sein musste. In den Wochen vor seiner Abreise aus New York hatte er mit ein paar Männern gesprochen, die unterwegs in der Mission haltgemacht hatten. Von ihnen hatte er erfahren, wie man am besten kostenfrei durchs Land reisen konnte. Viele hatten ihm die Methode des »Trainhoppings« empfohlen, für deren Anwendung er sich schließlich auch entschieden hatte. Diese Art des Reisens barg allerdings viele Gefahren. Neben der Eisenbahnpolizei, die die Männer »Bullen« nannten, und dem Besteigen und Verlassen fahrender Züge ging vor allem von anderen Reisenden eine Bedrohung aus. Dabei handelte es sich meist um heruntergekommene, wütende Individuen, die sich nur um sich selbst kümmerten.
»Wo kommste her?«, wollte der große Mann wissen und machte einen schwerfälligen Schritt auf McCoy zu. Die Augen des Arztes hatten sich mittlerweile wieder an das schwache Licht gewöhnt, und er sah nun, dass der Mann fast zwei Meter groß war und außerdem einen muskulösen Körper sowie riesige Hände besaß. Er trug eine abgewetzte Jacke – entweder braun oder grau, McCoy konnte es nicht genau sagen – und eine ausgefranste Baumwollhose.
»Ich bin in Richmond eingestiegen«, sagte McCoy wahrheitsgemäß, denn dort hatte er sich im Güterwagen versteckt. In den Tagen davor hatte er zusammen mit einem halben Dutzend anderer Umherziehender in einem leeren Niederbordwagen Philadelphia verlassen und dann über Nacht an einem Güterbahnhof in Baltimore gewartet, bis er einen passenden Zug fand, der Richtung Süden fuhr. Er hatte den ganzen Weg nach Washington auf der hinteren Ladefläche eines Getreidewaggons verbracht – zusammen mit einem sehr seltsamen Individuum – und war dann allein weitergefahren, bis er Richmond erreichte. Dort musste er zwei kalte Nächte lang ausharren, bis er den leeren Güterwagen an einem Zug entdeckt hatte, der direkt nach Atlanta fuhr. »Wo sind Sie eingestiegen?«, fragte McCoy. Er
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