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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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aus. »Jetzt reicht es aber, Mädchen!«
    Lag da etwa ein Hauch von Furcht in seiner Stimme?
    Zahllose Gedanken wirbelten Rokia durch den Kopf. »Vielleicht kannst du sie ja nicht nehmen, ist es nicht so, Sanagò? Sie ist zu fest mit dem Körper verbunden, hast du gesagt. Du kannst mich in ein Tier verwandeln, aber du kannst mir nicht meine Seele nehmen, ist es nicht so?«
    Der Fürst sprach die ersten Worte eines Zaubers aus, doch im gleichen Moment rüttelten alle Tiere seiner Menagerie zugleich an den Gitterstäben ihrer Käfige.
    Dieser plötzliche Lärm hallte furchterregend laut im Hof.
    »Die Tiere sollen damit aufhören!«, schrie der Fürst und unterbrach seine Beschwörung.
    Die Tiere.
    Die Tiere halfen ihr.
    Jetzt erinnerte sich Rokia, dass sie noch die beiden Bernsteinstücke am Hals trug.
    »Die Tiere, Großvater«, sagte sie freudestrahlend und holte die Steine aus dem Gris-gris hervor.
    Alle Tiere in den Käfigen warfen sich wieder gegen die Gitterstäbe.
    »Gib mir die Steine!«, schrie Sanagò.
    Rokia wich vor ihm zurück, während sie die beiden Bernsteinstücke fest mit ihren Händen umklammerte, und versuchte sich vorzustellen, zu welchem Zweck sie sie verwenden könnte.
    Sie sollte den Gesang einsetzen und dem Fürsten etwas abnehmen.
    Abnehmen.
    Abnehmen.
    Die Steine, die sie umklammerte, hatte sie aus dem Gris-gris genommen. Sie hatten ursprünglich zu einer großen Kette gehört. Einer ihrer Ahnen hatte sie getragen. Ein großer Griot .
    Ein Geschichtensänger, den Sanagò getötet hatte.
    Rokia musste die beiden Stücke Bernstein fest umklammern, den Gesang einsetzen und ihm etwas abnehmen …
    Sie sah Raogo an.
    Blickte ihm ganz tief in die Augen.
    Und als sie den Fürsten wieder ansah, wusste sie, was es war.

    Rokia schloss ihre Augen.
    Und begann zu singen:
»Funken des Feuers, Funken des Herzens …«
    Sie war barfuß, als sie anfing zu singen, genauso wie ihr Vorfahre auf jener Lichtung, als er gegen Sanagò gekämpft hatte. Genauso barfuß wie Setuké, als er vor den Toren des Dorfes den Geier von Inogo vertrieben hatte. Ihre Füße ruhten direkt auf der Erde und bezogen ihre Kraft daraus.
    Während Sanagòs Füße von schweren schwarzen Lederpantoffeln mit aufgerollten Spitzen geschützt wurden.
    Sie musste ihm seine Pantoffeln abnehmen. Seine Füße befreien.
    Damit die Erde ihn wieder berühren konnte.
    Die Erde, die er verraten hatte. Die er austrocknete. Auf der die Menschen und ihre Träume verdorrten.
    Diese Erde, auf der die Lieder verklangen. Wo man sich nicht mehr an die Ahnen erinnerte.
»Sie steigen und steigen, tanzen im Wind.
Siehst du sie? Weißt du es?
Was tut Sanagò, wenn sie vorbeiziehn?«
    Rokia veränderte jetzt den Wortlaut des Liedes und bemerkte, wie sich auf dem Gesicht des Fürsten Verwunderung breitmachte, während sie sang. Dann hörte sie, wie er aufschrie: »Nein! Haltet sie auf! Haltet sie sofort auf!«
    Und aus den Türmen des Palastes flogen Schwärme von Geiern hervor, die im Sturzflug auf das Mädchen herabstießen. Doch wenige Schritte vor ihr lösten sie sich zu kleinen dunklen Rinnsalen auf.
    Rokias Stimme fegte sie hinweg wie der Wind. Und sie griff mit ihrem Gesang die Mauern des Palastes an, ließ den Sand davon abplatzen.
    Ihr Lied ging weiter.
»Erinnert dieses Kind sich an die weißen Funken,
die steigen und steigen, siehst du sie? Er nicht.
Er steht regungslos da, das Feuer verzehrt ihn,
will weder den Namen noch die Erinnerung.
Sanagò! Sanagò!
Er will ihn nicht, seinen Namen.«
    Die Angeln des ersten Tierkäfigs gaben nach, und seine Gitter krachten zu Boden. Zwischen den Säulen des Bogengangs erschien der majestätische Körper eines Löwen, und sein Gebrüll hallte so laut durch den Hof, dass er Rokias Lied übertönte.
    Dann stürzte sich das Tier auf eine Wache, erledigte sie und warf sich auf die nächste.
    »Haltet sie auf! Haltet sie auf!«, schrie der Fürst gellend.
    Ein drittes Mal warfen sich alle Tiere donnernd gegen ihre Käfige. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen, sich zu befreien. Diesmal gelang es einem Flusspferd, und es jagte die Wachen über den ganzen Hof. Dann schafften es auch zwei weiße Wildschweine.
    »Genug!«
    Sanagòs Stimme war jetzt von ehrlicher Angst erfüllt, deshalb steigerte Rokia ihren Gesang noch. Und sie fühlte, wie die Bernsteinstücke in ihren Händen zu glühen begannen.
    Das war sie, das war ihr Werk.
    Die Schwingungen ihres Gesanges breiteten sich aus wie Wellen, wenn man einen Stein ins

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