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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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Höhle zurück, aus der er ursprünglich stammte.
    Vergeblich krallte der Fürst die Hände in die Luft und versuchte, den Gesang aufzuhalten, den schwindenden Sand, die Tiere, die frei im Hof tanzten, die Schreie von Ayad, von Kabir und seinen Mitverschwörern. Rauch stieg unter seinen Füßen auf, während sie sich mühsam über jene Erde schleppten, der der Fürst jeden Reichtum geraubt hatte.
    Ein paar Schritte vor Rokia brach er zusammen. Und hielt sich die Brust, wie ein alter Mann, der stirbt. Dann schaute er mit einer letzten flehenden Bitte aus seinen lidlosen Augen zu Rokia auf.
    In diesem Blick sah Rokia ganz kurz das Kind, das Sanagò einmal gewesen war.
    Es kam ihr so vor, als könnte sie sein früheres Gesicht erkennen, die Nase statt der leeren Höhle, die Ohren, den schmalen, aber speichelfeuchten Mund.
    Der Fürst der Stadt aus Sand lag im Sterben. Doch Sanagò war dadurch wie befreit.
    Rokia sang noch einmal und sagte ihm zum Abschied: »Ruh dich jetzt aus, Sanagò«
    Als das Mädchen ihre Fäuste um die beiden Stücke Bernstein schloss, stellte sie fest, dass sie sich in kleine Harzsplitter verwandelt hatten. Und ließ sie zu Boden fallen.
    Dann sang sie weiter.

    Der Körper des Fürsten schwoll an, unter seiner Haut brodelte es, und es kamen Köpfe, Hände und Arme der Seelen hervor, die er im Laufe der Jahrhunderte verschlungen hatte. Sie lösten sich wie aus einem Sumpf, rollten über den Boden oder stiegen hoch in die Luft, um ihn dann wieder anzusehen.
    Sie tauchten auf und schrien Sanagòs Namen, beschimpften ihn für das, was er ihnen angetan hatte. Eine nach der anderen kamen sie hervor, lachten oder spuckten ihn an, weinten oder zitterten nur. Einzeln, in Gruppen, in Scharen befreiten sich die Seelen aus seinem Körper, in den er sie gezwungen hatte.
    Nun stöhnte der Fürst der Stadt aus Sand nicht mehr vor Schmerzen. Und als die letzte Seele seinen Körper verließ, zerrten die Männer, die den Hof betreten hatten, seine sterblichen Überreste bis zu dem Baobab, dem der Sand nun aus allen Löchern quoll, um sie in seinen Stamm zu legen.
    Als Sanagò in den Baum gebettet wurde, mit dem alles begonnen hatte, war im Palast wieder Stille eingekehrt. Rokia hatte aufgehört zu singen, und die Seelen, die mit ihr im Chor gesungen hatten, waren verschwunden, in einem undeutlichen Stimmengewirr, das an das Klappern einer Muschelkette im Wind erinnerte.
    Oder an morgendliches Vogelzwitschern.
    Oder an das Rauschen der Blätter, wenn der Herbst kommt.
    Jetzt war alles vorbei.
    Wo einst die mächtigen Palastmauern gestanden hatten, erhoben sich jetzt nur noch dicke, in den Boden gerammte Baumstämme. Die Menschen liefen im Hof umher oder versteckten sich, staunten über die frei herumlaufenden Tiere und die Tatsache, dass sich die Wachen mit ihren zugenähten Lippen ergaben.
    Doch das war noch nicht genug der Wunder an diesem Tag voller Wunder. Viele der Tiere, die aus den Käfigen geflohen waren, verwandelten sich allmählich in das zurück, was sie vor ihrer Begegnung mit dem Fürsten einmal gewesen waren: kleine Jungen und Mädchen, denen Sanagò ihre Seelen nicht hatte nehmen können.
    Diese Kinder rannten jetzt nackt durch den Hof, sie lachten, weinten, suchten den Weg nach Hause oder blieben stehen und betrachteten die Trümmer, die sie umgaben.
    Dies würde noch ein langer Tag für sie alle werden.

    Als sie aufhörte zu singen, setzte sich Rokia völlig erschöpft auf den Boden und stützte den Kopf in die Hände.
    Sie hatte alles zerstört.
    Sie hatte den Fürsten Sanagò getötet.
    Doch in diesem ganzen Durcheinander war es ihr nicht gelungen, die Seele ihres Großvaters zu finden. Rokia hatte sie nicht mit jenen Seelen aufsteigen sehen, die mit ihr gesungen hatten, und auch nicht mit jenen, die Sanagòs sterbenden Körper verlassen hatten.
    Sie hatte versagt.
    »Rokia?«, rief sie ein dunkelhäutiger Junge. Er war barfuß, sein Oberkörper nackt, und er hatte seine Blöße mit einem Schurz aus einem Streifen himmelblauen Stoffs bedeckt, den er sich von der Uniform einer Wache des Fürsten abgerissen hatte.
    Rokia kannte den Jungen nicht, der ungefähr in ihrem Alter sein musste. Er hielt eine Ampulle aus rotem Glas in der Hand, über deren Oberfläche sich ein Muster aus Rissen zog.
    »Nicht alle Ampullen sind beim Herunterfallen zerbrochen«, sagte er und klopfte mit einem Fingernagel darauf. »Einige waren aus viel dickerem Glas, vielleicht weil der Fürst diese Seelen für wichtiger

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