Stadt aus Sand (German Edition)
hoch, das Musikinstrument zwischen die Zähne geklemmt und nur auf einen einzigen Gedanken fixiert.
»Du wusstest das, Matuké! Du wusstest, dass sie aufbrechen würde!«
Während er hochkletterte, spürte er, wie sein Rücken allmählich ganz warm wurde, da zusammen mit ihm die Sonne auf der anderen Seite des Horizontes nach oben stieg. Setuké kam bei der Grotte im selben Moment an, in dem die Sonne gegen den Himmel drückte, um jenseits des Horizonts aufzutauchen. Er legte eine Hand auf den Stützbalken das Grabes und sagte: »Matuké hat es gewusst, Vater!«
Dann wandte er sich um, um mit einem Blick die Ebene vor seinen Augen in sich aufzunehmen. Auf der einen Seite erstreckte sich die windzerzauste Brousse , durch die wilde Tiere streiften und in der sich bunte Vögel auf den Ästen der Bäume ausruhten. Auf der anderen Seite lag die Sandwüste, die in diesem Moment, der dem Sonnenaufgang vorausging, eine rosa Tönung mit elfenbeinfarbenen Streifen angenommen hatte.
Dort bewegte sich ein kleiner Punkt mit großen Ohren.
Setuké packte das Rombo , das heilige Instrument, das nur Männer zum Erklingen bringen durften, und nur des Nachts. Er begann es über dem Kopf zu schwingen, in den letzten Sekunden dieser bezaubernden Nacht.
Er spielte es und tanzte auf dem Überhang der Felswand vor dem Grab seines Vaters.
»Möge der Fuchsgott mit dir sein, mein Kind«, betete der Priester und segnete Rokias Reise.
Und dann wurde es Tag.
DIE WÜSTE
Von ihrem kleinen Lied beflügelt, kam Rokia schnell vorwärts.
Der Sand fühlte sich kühl und weich unter ihren Füßen an, und weil sie so leicht war, konnte sie darüberlaufen, ohne einzusinken. Sie ging geradeaus, immer ihrer Nase nach, weil sie der festen Überzeugung war, sie würde die Stadt aus Sand am besten erreichen, wenn sie nie ihre Richtung änderte. Aber es war gar nicht so einfach, immer nur geradeaus zu laufen. Deshalb sah sie hoch zum funkelnden See des Himmels und schöpfte Kraft aus seiner unendlichen Weite. Du bist nie allein , hatte sie ihr Großvater gelehrt, denn dort oben sind Mond und Sterne. Der Mond wirkte, als wäre er aus Pappe ausgeschnitten, und bewegte sich über den Himmel, als hinge er an einer unsichtbaren Stange. Die Sterne sahen aus wie kleine, übermütige Funken eines Feuers, das jemand irgendwo zu Anbeginn der Zeit entzündet haben musste.
Angesichts dieser Flut von Gedanken und Bildern, die über ihren Kopf hereinbrachen, musste Rokia lächeln. Genau wie die Träume waren diese seltsamen Ideen wohl Botschaften ihrer Ahnen und der Wüstengeister.
Als sie zum ersten Mal anhielt und sich ausruhte, versuchte sie zur Orientierung eine Ordnung in all diesen Sternen zu finden. Die hatte man bestimmt nicht zufällig so dort verstreut. Sie waren in Gruppen angeordnet. Auf der einen Seite bildeten einige von ihnen eine geschlossene, funkelnde Masse, die wie ein Haufen Männer aussah, die miteinander rauften. Andere standen eng nebeneinander, wie Frauen, die Klatsch austauschen wollten. Und dann gab es auch streng wirkende, einzelnstehende Sterne, die sich von den anderen fernhielten.
Kichernd setzte Rokia ihre Entdeckungsreise fort: Dieser große, ferne Stern dort schien einen weitverstreuten Haufen zu verfolgen, wie Frau Karembé, wenn sie versuchte, ihre Hennen zusammenzutreiben. Und die vier Sterne da, die eine Linie bildeten, erinnerten sie an den Speer ihres Bruders. Andere Sterne formten einen Kreis wie eine große bauchige Kalebasse. Oder bildeten ein geschlossenes Quadrat mit einem Stiel wie eine Pfanne, die man aufs Feuer stellte.
»Du hast recht, Großvater!«, rief Rokia, verwundert über ihre Entdeckung. »Die Sterne sind wirklich die besten Begleiter.«
Dann ging sie weiter und hielt den Blick immer nach oben gerichtet. Sie merkte sich einige Sterne, die ganz genau vor ihrer Nase zu liegen schienen, und von da an suchte sie immer nach ihnen, wenn sie nicht sicher war, welche Richtung sie einschlagen sollte.
Eine Düne neben der anderen, und alle sahen sie gleich aus, wie helle Berge aus Silberstaub, aus Puder oder aus Reismehl. Wo der Schein des Mondes und der Sterne sie nicht beleuchtete, schimmerten sie dagegen grau, violett und schwarz. Um die höchsten von ihnen zu erklimmen, musste Rokia ihre Hände zu Hilfe nehmen und auf allen vieren krabbeln, wobei sie bis zu den Knöcheln im Sand versank. War sie einmal oben angekommen, stach ihr wie mit winzigen Nadelstichen ein kühler trockener Wind in die Stirn, der die
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