Stadt aus Sand (German Edition)
Kämme der Dünen aufwirbelte und wie ein verrückt gewordener Architekt die Landschaft ständig neu gestaltete. Das war der Harmattan, der geheimnisvolle Wind aus dem Norden.
Der Abstieg von den Dünen war der vergnüglichste Teil ihrer Reise: Rokia bewegte sich mit großen Sprüngen vorwärts, während der Beutel ihres Großvaters ihr auf dem Rücken hüpfte, doch sie musste sehr achtsam sein, denn immer, wenn der Sand nachgab oder sie sich beim Sprung verrechnete, riss es sie plötzlich von den Beinen, und sie rollte bis ganz nach unten, während sie vergeblich versuchte, ihren Fall zu bremsen.
Dann lachte sie übermütig, stand wieder auf und klopfte sich den Sand aus den Kleidern, den Haaren und dem Reisebeutel.
Als sie durch ein dunkles Tal laufen musste, hörte sie auf zu singen und lauschte. Das Heulen des Harmattan in den Dünen klang wie der Laut eines vor langer Zeit ausgestorbenen Tieres, das nach seiner Gefährtin ruft. Kein Musikinstrument hätte die Schwermut dieses Klanges wiedergeben können. Er wirkte wie eine Erinnerung an die längst verschwundenen Bäume, als würden ihre Wurzeln unter all diesem Sand ruhen und darauf warten, eines Tages zu neuem Leben zu erwachen.
Dieser Gedanke, unter den Dünen könnte sich eine ganze Welt verstecken, hatte etwas Magisches und zugleich Erschreckendes. Rokia stellte sich vor, dass Hütten, Straßen, Palisaden, Kornspeicher und ganze Dörfer unter ihren Füßen im Sand begraben lagen, ausgetrocknete Flussläufe und kahle, blätterlose Bäume. Sie dachte auch kurz an Tiere und Menschen aus Sand, doch dann vertrieb sie diese Gedanken sofort wieder, weil sie sie an ihren Traum vor der Abreise erinnerten, als ihr Großvater zu Sand zerfallen war. Auf einmal verwandelten sich magische Bilder in Schreckensvisionen, und so langsam jagte die Wüste ihr Angst ein.
Während sie lief, entdeckte sie, dass es auch im Sand Leben gab. Sie bemerkte eine Schlange, die über die Dünen glitt, und einige Skorpione mit knackenden Panzern, die sich eilig versteckten, als sie vorbeikam. Sie waren so groß, dass Rokia sogar glaubte, sie könne ihre Scheren durch die Nacht klappern hören.
Nur einmal drehte sie sich um. Und erkannte die Landschaft, die sie umgab, nicht mehr wieder. Diese Fremdheit, die Stille und ihre Einsamkeit waren wie ein Stich ins Herz. Hatte sie wirklich schon so viel von ihrem Weg zurückgelegt? Oder erst ganz wenig?
Sie wusste es nicht. Die Sterne, die sie sich als Begleiter gesucht hatte, funkelten genau vor ihrer Nase, und jene dunkle Silhouette am Horizont, die aussah wie Schorf über einer Wunde, konnte immer noch die Falaise bei ihrem Dorf sein.
»Wann werde ich diese Stadt aus Sand nur erreichen?«, fragte sie sich.
Und was würde sie dort erwarten?
Hier umgab sie eine Welt aus gleichförmigen Wellen. Ein Mantel aus Dünen, die sich ständig veränderten und nun die Farben der Morgendämmerung annahmen. Oben am Himmel verblassten allmählich der Mond und die Sterne.
Rokia bedauerte ihr Verschwinden, doch sie verabschiedete sich voller Hoffnung und verabredete sich mit ihnen für die kommende Nacht.
Mit Tagesanbruch kleideten sich die Dünen wie eitle, putzsüchtige Frauen in ständig neue Farben. Das Licht färbte sie abwechselnd türkis, himmelblau, strohgelb, rosa, elfenbeinfarben und schließlich, als die Sonne sich erhob, blendend weiß.
Die Hitze erschöpfte Rokia so, dass sie aufhörte zu singen und immer langsamer lief. Als die Temperaturen unerträglich wurden, hielt sie an und baute sich aus ihrem Gewand und dem Reisebeutel einen primitiven Sonnenschutz, unter dem sie sich wie ein Kaninchen zusammenkauerte. Bei der Hitze brachte sie keinen Bissen herunter. Und das Wasser aus dem Horn brannte ihr in der Kehle.
Erschöpft schlief sie ein.
Als sie aufwachte, merkte sie, dass ihre Zunge angeschwollen war und sie aufgesprungene Lippen hatte. Auf der Unterlippe hingen lauter kleine trockene Hautfetzen, die beim Abreißen winzige Wunden hinterließen.
Wie lange hatte sie geschlafen? Rokia wusste es nicht genau. Sie betrachtete den dreieckigen Ausschnitt der Wüstenlandschaft, den sie durch den Spalt ihres Schutzes sah, und seufzte, von der Sonne geblendet: »Ach, es ist so heiß, Großvater!«
Auf der Suche nach Trost öffnete sie das Gris-gris an ihrem Hals und ließ die beiden kleinen Bernsteinstücke in ihre Hand gleiten. Im hellen Sonnenlicht konnte sie endlich erkennen, welche Tiere dort eingeritzt waren: ein Falke mit einer
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