Stadt aus Sand (German Edition)
sie sich zu ihrer Mutter um, die gleichmäßig im Schlaf atmete.
Und wartete.
Rokia konnte das nicht wissen, aber Zouley tat nur so, als würde sie schlafen. Sie war aufgewacht, als ihre Tochter ihren Albtraum hatte, und hatte all ihre Seufzer und Fragen gehört. Sie hatte gehört, wie sie aufgestanden war und wie sie nun im Mondschein ihre Mutter betrachtete.
Die Frau biss sich auf die Lippen, um nicht der Versuchung nachzugeben, aufzustehen und ihre Tochter wieder ins Bett zu bringen. Auch wenn das jetzt das Natürlichste gewesen wäre, ahnte Zouley, dass sie nicht eingreifen durfte.
Geh wieder schlafen …, hätte sie liebend gern zu ihr gesagt. Hör auf, durch die Gegend zu streunen wie ein Junge. Im Haus gibt es genug zu tun.
Und das hätte sie auch getan, wenn Rokia ein ganz normales Mädchen gewesen wäre.
Aber das war sie nicht, war sie nie gewesen. Zouley hatte das begriffen, als Matuké angefangen hatte, sich um sie zu kümmern. Als er so viel Zeit mit ihr verbrachte, um mit ihr zusammen Lieder zu singen.
Rokia war das Mädchen, auf das der Griot gewartet hatte. Seine Schülerin.
Sie war der Mensch, der Zouley nie hatte sein können.
Die Ameise, die auf der Suche nach ihrer Zukunft den Bau verließ.
Zouley schloss die Augen und zwang sich, sie nicht wieder zu öffnen.
Sie kniff sie fester zusammen, als sie ein leises Klirren vernahm. Und riss sie wieder auf, als sie den Vorhang rascheln hörte.
Rokia war nicht mehr da. Sie hatte sich den Tellit -Ring vom Finger gezogen, in dem sich ein Stein aus der Wüste befand, und hatte ihn auf den Boden gelegt, mitten in die beiden Armreifen aus Kupfer, die ihr der Großvater geschenkt hatte.
Und dann war sie gegangen.
Draußen am Himmel glitt der Mond mit seinem weißen und immer volleren Segel auf dem Fluss der Sterne dahin. In seinem Schein wirkte der Hof wie eine helle Lache.
Napoleon war an einer Ziegelmauer festgebunden.
»Pst! Ganz ruhig, Napoleon! Ganz ruhig!« Rokia streichelte ihn. Sie hatte nicht vor, ihn mit sich in die Wüste zu nehmen. Dort waren schon viele Tiere verendet, und dieses Schicksal wollte sie dem Esel ersparen. Sie fuhr mit der Hand unter seinen Bauch, um an die Reisetaschen zu kommen, wo sie mit ein wenig Glück noch etwas zu Essen finden würde. Da waren die getrockneten Früchte aus dem Vorrat ihres Großvaters und das Bündel ihres Bruders. Sie nahm beides und schlich lautlos an der Hütte ihrer Brüder vorbei, aus der lautes Schnarchen drang.
Rokia nahm den Beutel ihres Großvaters, der noch an der Mauer lehnte, verstaute darin die Vorräte und tat noch ein Trinkhorn für Wasser dazu. Sie nahm sich ein zweites Gewand vom Stapel Wäsche, den die Frauen vom Fluss mitgebracht hatten, die Sandalen ihres Bruders Inogo und einen Schal gegen die Kälte, da sie in einem Lied gehört hatte, dass die Nächte in der Wüste eisig waren.
Hatte sie alles, was sie brauchte?
Ja. Mit ihren wenigen Habseligkeiten trat sie über die rote Stufe des Hofes.
Rokia war nicht die Einzige, die nicht schlafen konnte.
Auch der Hogon Setuké litt unter schrecklichen Albträumen. Er durchlebte immer wieder die Szene, die ihn so viele Jahre gequält hatte, den Moment, in dem Sanagò die Seele seines Vaters gepackt und ihn getötet hatte. Auch nach so vielen Jahren schaffte es dieses Bild immer noch, ihn in Panik zu versetzen.
Er schwitzte. Und das war schlecht. Ein Hogon durfte nicht schwitzen, denn sonst verlor er den Schutz der Geister.
Setuké krümmte sich zusammen und tastete prüfend seine Fußsohlen ab, ob sie noch kühl waren. Das waren sie, und Setuké seufzte erleichtert auf. Die Füße eines Hogon waren heilig: Über sie erhielt er jede Nacht Ammas Segen. Der Gott schickte eine Lebè , eine unsichtbare Eidechse, die seine Füße in Erwartung des folgenden Tages mit ihrer Zunge benetzte. Daher musste Setuké beim Laufen Sandalen tragen, um seine Füße zu schützen.
Durch die Fenster seines Hauses sah er den verlassenen Dorfplatz, der still im bläulichen Schimmer des Mondes lag. Er brauchte gar nicht erst versuchen, ob er weiterschlafen konnte.
Also suchte er sich seine Sandalen, zog sie an und ging zum Fenster. Der Schatten der blaugestreiften Falaise lag über dem Dorf, wirkte riesig und doch zugleich ungewohnt zerbrechlich.
Setuké suchte den Himmel nach schwarzen Geiern ab, doch er konnte keine entdecken.
Er musste daran denken, wie viel Kraft es ihn kostete, den Körper seine Bruders am Leben zu erhalten. Dann dachte er
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