Stadt aus Sand (German Edition)
an das Mädchen und an ihre Fragen, auf die er nicht hatte antworten wollen. Ihm kam ihre letzte Bemerkung in den Sinn: »Und wenn der Fuchs nicht kommt?«
Und wenn der Fuchs das dargebotene Futter nicht angenommen und keine Antwort hinterlassen hatte, indem er über die Quadrate lief? Was hätte das wohl zu bedeuten? Vielleicht wollten die Ahnen ja nicht mehr mit ihm in Verbindung treten?
»Und wenn der Fuchs nicht gekommen ist?«, fragte sich nun der Hogon laut.
Er war es nicht gewohnt, in der Nacht aufzustehen, aber nun fehlten nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenaufgang. Und außerdem, nach allem, was passiert war, nun, wo die Welt einem unsicheren Schicksal entgegenging, was für einen Sinn machte es da, die Gewohnheiten seiner Lehrmeister beizubehalten?
So wie die Dinge lagen, konnte Setuké einer der letzten Hogon seines Volkes sein, genau wie Matuké einer der letzten Geschichtensänger gewesen war. Allein der Gedanke daran ließ ihn vor Angst erschauern, als er die Tür öffnete.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich allein.
Er trat hinaus und machte sich auf den Weg zum Brunnen.
Mit seinem weit ausholenden Gang, den zwei Stöcken und dem typischen Kopfnicken im Rhythmus seiner Schritte glich er einem Stelzenvogel. Rasch erreichte er das Tor zum Baobab, hob den Riegel hoch und öffnete es nur so weit, dass er gerade hindurchschlüpfen konnte.
Er folgte dem Pfad bis zum Ende und kontrollierte sofort die Quadrate des Orakels.
Dann atmete er erleichtert auf.
»Die Ahnen sind noch mit mir«, seufzte er, als er zwei Reihen winziger Fuchsspuren sah, die über seine Zeichnung liefen. »Und nun werden sie mir sagen, was ich tun soll, Matuké.«
Er musste sie jetzt nur noch nach den Regel des uralten, überlieferten Wissens lesen. Und das tat er unverzüglich.
Die Antwort lautete: »Lass ihn ziehen auf seine lange Reise.«
»Ihn ziehen lassen?«, fragte Setuké ungläubig und hob den Blick zu den Sternen. Er fühlte, wie Zorn in ihm aufstieg.
»Ich soll meinen Bruder auf seine lange Reise ziehen lassen? Wie könnt ihr so etwas von mir verlangen?«
Setukés Herz klopfte heftig, und sein Magen war wie zugeschnürt. Die Wut fraß sich ätzend in seine Knochen, und er verspürte den heftigen Wunsch, sich aufzulehnen. Wenn nun auch die Ahnen so grausam waren, was für einen Sinn hatte es dann noch, gegen den Fürsten zu kämpfen?
Setuké konnte nicht auf seinen Bruder verzichten. Er konnte ihn nicht ziehen lassen. Er war so verbittert, dass er einen langen Moment daran dachte, die Zeichen des Orakels zu verwischen und alles aufzugeben. Er dachte darüber nach, nie mehr die Zauber auszusprechen, mit denen er jeden Tag ein schützendes Netz über das Dorf wob und die ihn so viel Kraft kosteten. Den ewigen Kampf gegen Sanagò nicht weiter zu führen, dem Weg, den sein Vater ihm vorgegeben hatte, nicht weiter zu folgen. Die Lehrjahre mit seinem Meister, in denen er die uralten Regeln der Welt gelernt hatte, um sie an die nachkommenden Generationen weitergeben zu können, waren absolut sinnlos gewesen. So wie all die Mühe, der Schweiß, den er nicht vergießen durfte, alle Entbehrungen, Rituale und Worte, die ihn aufzehrten, die grübelnd zugebrachten Nächte, die endlosen Unterredungen mit seinem Bruder auf der Suche nach einem Weg, wie sie ihren großen Feind vernichtend schlagen konnten.
»Und nun, nach all dem, was wir getan haben, soll ich ihn einfach ziehen lassen auf seine lange Reise?«, fragte er ein letztes Mal den Stern von Po Tolo , den Zwillingsstern, von dem alle Menschen die Wahrheit gelernt hatten. »Ist das die Antwort?«
Ein Geräusch im Gras schreckte ihn auf.
Es kam jemand.
Und Setuké versteckte sich wie ein zehnjähriger Junge hinter einem Busch.
Rokia war wegen ihrer Flucht so aufgeregt und zugleich so erstaunt über ihren eigenen Mut, dass sie sich gar nicht wunderte, als sie das Tor zum Baobab angelehnt vorfand.
Sie nutzte dieses unerwartete Glück, schlüpfte heimlich aus dem Dorf und nahm den Weg zum Brunnen.
Sie atmete die frische Nachtluft ein und dachte daran, dass es eine gute Idee gewesen war aufzubrechen, solange es noch kühl war. Geschickt glitt sie an den Felskanten entlang, die sie inzwischen in- und auswendig kannte, und schob die letzten trockenen Grashalme beiseite, die rund um die Lichtung standen. Sie machte halt, als sie ein Tier hörte, das sich in den Büschen verbarg.
»O nein!«, dachte sie ängstlich. »Hoffentlich habe ich jetzt nicht
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