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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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eine merkwürdige Gelassenheit. Eine vermummte Gestalt war bei ihm und hielt Amadé die Arme auf dem Rücken. Der Kanzler lächelte beinahe liebevoll, als er Daumen und Zeigefinger unter Amadés Kinn legte und sie zwang, ihn anzusehen. »Na so was« , sagte er. »Sollten Sie um diese Zeit nicht auf Ihrem Cello spielen?«
    Amadé versuchte sich loszureißen. »Ich habe den Stein nicht« , fauchte sie.
    Der Kanzler nickte bedächtig. »Aber Sie wissen, wer ihn stahl, nicht wahr?«
    Amadé schwieg.
    Ich wollte losstürzen, um ihr zu helfen, doch Marian hielt mich zurück. »Wir müssen den Stein in Sicherheit bringen« , wisperte er. »Wenn wir es jetzt nicht tun, wird der Kanzler ihn bekommen. Amadé kommt schon klar. Sie ist eine Kämpferin, Flora, sie hält ihn nur hin, damit wir einen Vorsprung haben. «
    Erneut rannten wir, und während wir rannten, veränderte sich meine Erinnerung. Wir waren jetzt irgendwo in der Stadt, vielleicht in Krummsen, denn vor uns wuchs die Ruine eines verfallenen Stadthauses in den Himmel und kratzte scharfkantig an der Dunkelheit. Ich fror, obwohl Marian seinen Arm um meine Schultern gelegt hatte, und drängte mich tiefer in den Hauseingang, in dem wir beide hockten. Noch immer spürte ich das Gewicht des Weißen Löwen in meiner Hand. Und die Aura der Macht, die ihn umgab und sich anfühlte, als wäre sie ein Feil von mir.
    »Hör zu« , sagte Marian und sah mich so fest an, dass ich beinahe körperlich fühlte, wie er seinen Blick in meinen schraubte. »Es ist sehr, sehr wichtig, okay? Versprich mir, mir wenigstens zuzuhören, ja?«
    Ich zögerte. Dann nickte ich.
    »Du weißt, weshalb ich den Stein brauche« , begann er und ich spürte, wie ich ein weiteres Mal nickte. »Ich will ihn nicht für mich und ich verlange ja gar nicht, dass er nicht vernichtet wird. Aber, Flora, ich flehe dich an: Wir müssen es doch nicht gleich tun. Überlass ihn mir nur für eine kurze Weile, ein paar Tage, mehr brauche ich nicht. Nur so lange, dass ich mit ihm in die Minen hinabsteigen kann. Danach bringen wir ihn dem Großmeister, in Ordnung? Flora, ich liebe dich und ich weiß, du liebst mich auch. So ist es doch?«
    In seinen Augen glitzerten Tränen. Schon löste sich eine von ihnen aus seinem Augenwinkel und rann über seine Wange. Unwillkürlich hob ich meine freie Hand und wischte sie fort. Meine Finger strichen über seine Haut.
    »Natürlich« , flüsterte ich. »So ist es. «
    Wir küssten uns, lange und verzweifelt. Wie zwei Ertrinkende, die versuchten, aneinander Halt zu finden. Es war ein Kuss, der nach Bitterkeit schmeckte. Marians Hände vergruben sich in meinem Haar, während ich den Weißen Löwen an meine Brust drückte, so als ahnte ich, dass der Stein immer zwischen uns stehen würde.
    Noch einmal veränderte sich meine Erinnerung, sie wurde jetzt zu einem einzelnen Bild. Ich sah mich selbst, wie ich in einer Straße Eisenheims stand und den Weißen Löwen umklammerte, als hinge mein Leben von ihm ab. Vor mir ragten mehrere Gebäude in die Höhe, erbaut aus mannshohen Steinquadern und überzogen, so schien es mir, mit dem Staub von Jahrtausenden. Im Geiste sah ich einen Finger, der wieder und wieder auf die Fotografie neben einem Kreuzworträtsel deutete. Starr vor Schreck betrachtete ich die Bauwerke vor mir. Der Stein im meiner Hand wurde schwerer. Ich keuchte. Doch es bestand kein Zweifel: Dies war das perfekte Versteck. Dies waren die Pyramiden von Giseh.
    Ein Lachen neben meinem Ohr brachte mich zurück in die Wirklichkeit des nachtschwarzen Zeppelins.
    »Es ist so weit, nicht wahr?«, raunte der Kanzler. »Sie wissen es wieder.«
    Ich blinzelte und schaute mich um. Das Luftschiff bewegte sich nicht mehr. Reglos hing es in der Luft, viele, viele Meter über Eisenheim. Der Kanzler hatte sich vor mir aufgebaut wie ein Schakal, kurz bevor er seine Beute zerriss.
    »Ich habe es die ganze Zeit über geahnt«, triumphierte er. »Mafalda hat Ihnen etwas in den Kopf gepflanzt, ein Puzzleteil Ihrer Erinnerung, das sich bei der nächstbesten Gelegenheit einfügen würde. Und das Varieté hat Sie in genau die richtige Stimmung versetzt. Meine Güte, Sie waren fast fünf Minuten lang vollkommen von Sinnen!«
    Schweigend starrte ich an ihm vorbei in das Nichts draußen vor der Stadt.
    »Also.« Der Kanzler ging vor mir in die Hocke, um mir in die Augen sehen zu können, und legte den Kopf schief. Mit beiden Händen ergriff er die meinen, die in meinem Schoß gelegen hatten. »Wo befindet

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