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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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sich der Weiße Löwe?«, fragte er, jedes Wort einzeln betonend.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich genauso langsam und feierlich.
    Die Pupillen des Kanzlers glühten. »Ich sagte es schon einmal: Ich erkenne es, wenn man mich belügt. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Prinzessin, Sie sollten mir lieber freiwillig sagen, was ich zu wissen begehre.«
    Ich reckte das Kinn. »Weil Sie andernfalls was tun werden? Mich genauso foltern, wie Sie es mit Amadé getan haben? Auch Sie haben mich belogen, Kanzler. « Ich spuckte ihm das letzte Wort vor die Füße.
    »Das habe ich keineswegs. Was mit der Tochter des Großmeisters geschah, war nicht zu verhindern. Nicht ich war derjenige, der sie mit diesen Narben gezeichnet hat«, sagte er und wirkte mit einem Mal tatsächlich erschüttert. In seinem Mundwinkel bildete sich eine Falte, die nicht so recht zu dem ansonsten perfekt geschnittenen Gesicht passen wollte. Etwas Schmerzhaftes verschleierte seinen Blick, als er tonlos hinzufügte: »Aber ich gab den Befehl dazu.«
    Wut flammte so jäh in mir auf, dass es mich auf die Füße riss. »Sie sind besessen von diesem bescheuerten Stein«, rief ich.
    »Genau wie deine Seele. Herrgott, Flora! Ich will doch nur verhindern, dass es dir ebenso ergeht wie der Tochter des Großmeisters. Mein Leben gehört dieser Stadt. Eisenheim ist alles, was ich war, bin und sein werde. Und die Machenschaften des Großmeisters sind gefährlich … Du meine Güte, ich mag dich, Flora. Zwing mich nicht, dir wehzutun.« Der Kanzler strich sich eine Strähne seines Haares aus der Stirn. Es war ebenso schwarz wie der Himmel, den man durch das Fenster hinter ihm sah. Und auch ebenso schwarz wie das Nichts, das dahinterlag. Einen verwirrenden Augenblick lang fragte ich mich, ob der Himmel und das Nichts vielleicht ein und dasselbe waren. War der Himmel über uns nicht in Wahrheit ein gigantischer leerer Raum? Eine weitere Ausdehnung des Nichts? Oder war alles Nichts am Ende Himmel?
    »Amadé«, sagte der Kanzler unvermittelt in die Stille hinein. »Ich liebe ihre Musik und ich liebe auch sie.«
    Ich lachte auf. Der Zorn in mir verwandelte sich in ein Gleißen. Heiß durchströmte es meine Adern, pulsierte in meinen Schläfen und an meinem Hals. »Sie lügen«, rief ich. »Sie haben sie zerstört.«
    Zu meiner Überraschung nickte der Kanzler. »Es stimmt. Und ich liebe sie nicht. Aber ich wünschte, es wäre so, glauben Sie mir, Prinzessin. Wenn ich noch ein Herz hätte, täte ich es. Dass ausgerechnet sie uns in jener Nacht in die Hände fallen musste.« Er erbebte bei dem Gedanken. »Ich hatte keine Wahl.«
    Ich setzte zu einer Erwiderung an, irgendeiner Beleidigung, etwas, was ich ihm an den Kopf werfen konnte. Ich wollte ihn einen Lügner nennen, einen Feigling, einen Mörder. Doch mein Mund blieb geschlossen. Stattdessen griff meine Hand wie von selbst nach der Sichel in meiner Rocktasche, die ich seit über zwei Wochen in beiden Welten ständig bei mir trug, und zückte sie. Kaum hatten sich meine Finger um das Metall geschlossen, spürte ich das vertraute Kribbeln in meinen Handgelenken und an der Stelle hinter meinen Ohren.
    Selbst in der Schattenwelt war das Leuchten, das von ihm ausging, bläulich. Kaum wahrnehmbar zwar, aber farbig huschte es zusammen mit etwas, was nach Erleichterung aussah, über das Gesicht des Kanzlers. Doch obwohl ich die Sichel zusammen mit all meinem Hass direkt auf ihn gerichtet hatte, passierte weiter nichts.
    »Sie wollen mich also töten?«, fragte der Kanzler ruhig.
    Ich antwortete nicht.
    Langsam hob er die Hand und schob meine Waffe zur Seite. »Vielleicht ist es Ihnen bereits aufgefallen: Dieses merkwürdige kleine Ding dort hat keinerlei Wirkung auf mich. Denn technisch gesehen bin ich bereits tot.« Er strahlte mich an. »Eine Sache erstaunt mich im Übrigen«, fügte er hinzu und fixierte mich wieder auf diese seltsame Art, wie er es auch im Moulin Rouge getan hatte. Dann lachte er laut auf. »Die Pyramiden von Giseh? Sie müssen zugeben, dass das kein besonders originelles Versteck ist.«
    Ich umklammerte die Sichel in meiner Hand fester, zu perplex, um etwas zu sagen. Woher wusste er es? Wie? Wann? Hatte ich während meiner Erinnerung gesprochen? Was für ein Spiel spielte er mit mir?
    »Zuweilen ist das Gesicht einer Frau für mich wie ein offenes Buch«, sagte der Kanzler, der sich sichtlich über meine Miene amüsierte, und ließ sich in den Sessel neben mir fallen. »Nun, das war doch ein äußerst

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