Stadt aus Trug und Schatten
bat.
»Meine Damen und Herren, verehrte Zuschauer«, rief er und knetete den Rauch zu einem gigantischen Kringel, den er unter die Decke des Saals schweben ließ. »Werden Sie Zeugen der Magie der Gedanken! Lassen Sie sich entführen in die Welt des Seelenspiegels.« Er legte eine dramatische Pause ein. »Meine Damen und Herren, wenn Sie Ihren Blick heben, wird ein jeder von Ihnen seinen größten Wunsch in den Tiefen der Materie erkennen können.«
Ein Raunen ging durch die Menge und auch ich sah nach oben. Beinahe hätte ich vergessen weiterzuatmen. Der Rauchkringel hatte sich in einen Strudel verwandelt, in dem Bilder über Bilder aufflackerten. Gesichter, Reichtümer und ferne Orte wirbelten durcheinander. Der Kanzler und ich seufzten auf, als der Weiße Löwe an uns vorüberschwebte, gefolgt von Marians kantigen Zügen, deren Anblick mich erschaudern ließ. Das Publikum brach in ohrenbetäubenden Jubel aus, während ich wie versteinert dasaß.
Erst als der Vorhang sich wieder geschlossen hatte und der Applaus allmählich verebbte, kam ich wieder zu mir. Es war, als würde ich aus einem dunklen See auftauchen, als wäre ich soeben aus einem Traum erwacht, um festzustellen, dass in der Realität ein seltsamer Unsterblicher neben mir saß und mich anstarrte, als hätte er die ganze Zeit über nicht die Künstler, sondern mich beobachtet. Etwas Wölfisches lag auf den Zügen des Kanzlers. »Hat es Euch gefallen?«
Gegen meinen Willen sprudelten die Worte aus mir hervor: »Einfach fantastisch! Die Kostüme und die –« Ich biss mir auf die Lippe. Was redete ich denn da? Wollte ich dem Kanzler etwa allen Ernstes die Genugtuung geben, dass ich heute Abend Spaß gehabt hatte? Mein Lächeln erstarb, stattdessen setzte ich eine gleichgültige Miene auf und zuckte mit den Achseln. »Na ja. Es gibt Langweiligeres«, sagte ich, erntete jedoch nur ein wissendes Lächeln.
Das Treppenhaus war überfüllt. Menschen jeden Alters schoben sich die Stufen hinauf zu den wartenden Zeppelinen und riefen sich über meinen Kopf hinweg zu, wie großartig der Abend gewesen und wie rasch er vergangen sei. Wohltuend empfingen uns Stille und Dunkelheit im Luftschiff des Kanzlers. Schweigend schwebten wir aus dem Backand hinaus und über die Stadt. Ich hatte mich wieder auf meinen Stammplatz ganz vorn an der Spitze der Gondel gesetzt und ließ meinen Blick über die Dächer und Plätze schweifen. Und ich war müde und schläfrig und überlegte mir, ob ich nicht einfach wegdämmern und bei mir zu Hause in der realen Welt aufwachen konnte. Da entdeckte ich unter uns ein Gebäude. Das heißt, eigentlich waren es zwei. Sie waren alt und dreieckig und ich hatte sie bereits des Öfteren gesehen. Doch heute lösten sie etwas in mir aus.
Eine Erinnerung.
Wieder rannte ich. Über mir wölbte sich der Gang aus grob behauenem Stein und in meiner Faust lag schwer und hart der Weiße Löwe. Ich sah ihn nicht, doch ich wusste, dass er dort war. Genauso wie ich wusste, dass sie mich verfolgten. Schon hörte ich ihre Schritte hinter mir. Meine Füße glitten über den Lehmboden. Gleich hatte ich es geschafft, nur noch ein kurzes Stück. Ich versuchte, noch einmal zu beschleunigen.
Da trat Marian mir in den Weg. Ich bremste ab. Taumelte. »Gib ihn mir« , sagte er und durchbohrte mich mit seinem gläsernen Blick.
»Nein. « Ich stützte mich an der Wand ab und umklammerte den Weißen Löwen so fest, dass seine Kanten mir in die Handflächen schnitten. »Das kann ich nicht. «
»Gib ihn mir« , wiederholte Marian beschwörend.
Die Schritte wurden lauter. Sie kamen näher, nein, sie waren schon da!
Plötzlich stand Amadé zwischen uns, die glatte Haut ihres Gesichts glänzend vor Schweiß. Sie war außer Atem, die Furcht ließ sie zittern. »Dafür ist jetzt keine Zeit« , keuchte sie. »Macht schon, ihr müsst von hier verschwinden. Ich halte sie auf. «
»Sie hat recht!«, rief ich. »Wir müssen weg. Wir alle drei. «
Marians Kopf ruckte. Ich wusste nicht genau, ob es ein Nicken war, trotzdem drängte ich mich an ihm vorbei. Ich spürte, wie er sich neben mir ebenfalls in Bewegung setzte. Wir rannten ein gutes Stück. Und dann hörte ich, wie Amadé aufschrie.
Sie hatten uns eingeholt!
Im Laufen wirbelte ich herum und jetzt sah ich ihn einige Dutzend Meter weiter hinten im Gang: den Kanzler. Er trug polierte Schnallenschuhe und ein Seidencape, sein Haar fiel ihm in sanften Wellen auf die Schultern und auf seinen makellosen Gesichtszügen lag
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