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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Herzschlag, bis ich begriff, dass er mit »Freunde« nicht die Zwillinge, sondern die Kämpfer des Grauen Bundes meinte. »Nein. Ich bin noch nicht viel herumgekommen.« Zwar meinte ich mich dunkel zu erinnern, dass Marian diesen Stadtteil einmal erwähnt hatte, doch was er über ihn gesagt hatte, fiel mir beim besten Willen nicht mehr ein.
    »Wir steuern direkt darauf zu«, sagte der Kanzler und tatsächlich schälte sich dort etwas aus dem Meer der Häuser, was irgendwie anders war als der Rest der Stadt. Heller erleuchtet. Größer. Seltsamer. Ich erkannte Türme und Fenster, Türen und Brücken und etwas, was nach einer Windmühle aussah. Zwischen ihnen schienen Hunderte von Heliometern herumzufliegen wie ein Glühwürmchenschwarm. Nun erst fiel mir auf, dass ich Sieben im Palast vergessen hatte. Aber wie es aussah, war es dort, wo wir hinflogen, ohnehin hell genug.
    »Das Backand ist seit jeher das Viertel der Künstler. Eigentlich ist ›Viertel‹ der falsche Ausdruck, denn es handelt sich um ein einziges Gebäude«, erläuterte der Kanzler. »Es gibt dort alles, Theater, Nachtclubs, Bars, Ateliers, eine Oper und Cafés voller Schriftsteller. Das dort unten ist die Philistergasse, der – zu Land – einzige Zugang zum Backand. Eine Art Nadelöhr, in dem unsere Philosophen leben und nächtelang von Fenster zu Fenster über den Sinn des Lebens diskutieren.«
    Ich betrachtete die unscheinbare Gasse, die schnurgerade auf den Komplex des Backand zuführte. Wenn ich die Augen zusammenkniff, erkannte ich ein paar Halbglatzen und Bärte zwischen den gespannten Wäscheleinen. Aber vielleicht war das auch nur Täuschung.
    Der Kanzler lenkte das Luftschiff mitten hinein in die Türme und Dächer des Künstlerviertels, sodass es zwischen Bruchbuden und Luxussuiten, Leuchtreklamen und Wegweisern hindurchglitt. Bis wir schließlich die gigantische Windmühle erreichten, bei der es sich – ein Schild verkündete es unmissverständlich – um das Moulin Rouge handelte. Obwohl die Mühle, die aus dem Gebäude wuchs wie ein Pilz, natürlich nicht rot, sondern schwarzweiß war, hatte ich plötzlich die Vision einer singenden Nicole Kidman im Glitzerkostüm.
    Glitzer schien auch in der Schattenwelt ein elementarer Bestandteil der Einrichtung des Etablissements zu sein. Zusammen mit Samt, Troddeln und Spiegeln in protzigen Rahmen. Nachdem wir an einem der Windmühlenflügel angelegt hatten, führte mich der Kanzler durch ein marmornes Treppenhaus hinab bis in eine von fünf Logen, die wie Schwalbennester an der Innenwand des Gebäudes klebten. In den Rängen weiter unten war es bereits brechend voll. Das Gemurmel von Menschen, die vor Vorfreude mit ihrer Abendgarderobe um die Wette strahlten, waberte zu uns herauf, während die Bühne hinter einem etwa zwanzig Meter hohen, üppigen Vorhang verborgen lag. Gaslichter in silbernen Verschalungen tauchten den Saal in ein geheimnisvolles Glimmen.
    Es war stickig, doch die Loge verfügte über ein bequemes Sofa und ein Tischchen, auf dem verschiedene Getränke in Kristallkaraffen bereitstanden. Etwas befangen nahm ich neben dem Kanzler Platz. Das Polster war zwar breit genug für zwei Personen, aber so dicht neben ihm zu sitzen, war mir unangenehm. Ich bildete mir ein, sogar die Wärme seines Körpers zu spüren und den Geruch seines Aftershaves (eine Mischung aus Leder und etwas Fruchtigem) zu riechen. Hastig schlug ich die Beine übereinander, um später nicht versehentlich mit meinem Knie gegen seins zu stoßen. Das Kissen rechts neben mir nahm ich auf den Schoß, um näher an die Armlehne heranrutschen zu können. Diese Loge war definitiv nur etwas für Pärchen und solche, die es werden wollten.
    »Wein?«, fragte der Kanzler, der mit der Sitzsituation anscheinend hochzufrieden war, und wollte mir einschenken.
    »Wasser.«
    »Kommt sofort.« Ohne den Blick von mir zu wenden, goss er ein und reichte mir das Glas. »Auf den heutigen Abend. Mögen Sie immer so bezaubernd aussehen wie jetzt«, sagte er.
    »Warum?«, fragte ich, anstatt zu trinken. »Warum sind wir hier?«
    »Wegen des Varietés natürlich.«
    »Ach? Nur deswegen? Als wir uns das letzte Mal sahen, haben Sie mir in meinem Schlafzimmer aufgelauert, mich bedroht und ein Miststück genannt. Trotzdem gehen wir jetzt gemeinsam ins Varieté? Sie wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass Sie das ohne Hintergedanken tun.« Ich schnaubte. »Ohne Gedanken an den Stein?«
    »Ich denke Tag und Nacht an den Stein und es tut

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