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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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von der Gaube entfernt auf einer Schräge, sodass ich abwärtsschlitterte und gerade noch die Regenrinne zu fassen bekam, bevor ich in die Tiefe stürzte.
    Es handelte sich um ein Mehrfamilienhaus mit Stuckfassade, dessen drei Etagen es zu überwinden galt. Vorsichtig tastete ich mich mit den Füßen vor und fand tatsächlich Halt auf einem Fenstersims. Dennoch wurde es eine lange Kletterpartie, denn ich kam nur im Schneckentempo voran. Immer wieder rutschte ich mit den glatten Sohlen meiner Schnürstiefel ab. Über dem rauen Putz begannen meine Finger zu bluten. Schwarzes, farbloses Blut.
    Doch schließlich schaffte ich es. Die letzten zwei Meter sprang ich und landete mit beiden Füßen auf dem Pflaster. Als ich den Kopf in den Nacken legte, um zu sehen, welche Höhe ich gemeistert hatte, bemerkte ich, dass der Zeppelin bereits abgedreht hatte. Auch ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Der Kanzler wusste nun Bescheid und das bedeutete, ich musste schnellstens etwas unternehmen. Obwohl jeder einzelne Muskel in meinem Körper wie Feuer brannte, rannte ich los, durchquerte Straßen, Gassen und Gässchen, bis vor mir schließlich die Kathedrale von Notre-Dame in den Himmel wuchs.
    Mit den Fäusten hämmerte ich gegen das Portal. »Aufmachen!
    Lasst mich rein!«, rief ich und drängte mich, kaum waren die mächtigen Türflügel einen Spaltbreit aufgeschwungen, an dem verdutzt dreinblickenden Dienstmädchen vorbei, das mir geöffnet hatte.
    Mitten in der Eingangshalle formte ich meine Hände zu einem Trichter. »Marian!«, rief ich aus Leibeskräften. »MAAARiiiAAAAAN!«
    Ich musste unbedingt mit ihm sprechen, denn es sah immerhin ganz danach aus, als hätte ich den Weißen Löwen versteckt, um ihm zu helfen. Nur wobei, wusste ich noch immer nicht. Und ich fragte mich, warum er es mir nicht einfach gesagt hatte. Verdammt noch mal! Was verheimlichte mir dieser Kerl?
    »MAARIIAAAN!!«, wiederholte ich und stieg die Treppe zu den Privatzimmern der Kämpfer hinauf. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, welches von ihnen Marian bewohnte. Aber das war auch egal, er würde mich schon hören. »Marian, ich muss mit dir reden!«, rief ich und hastete den Flur entlang, wobei ich an jede Tür klopfte, bis sich eine von ihnen mit einem Knarren öffnete.
    Allerdings war es nicht Marian, der seinen Kopf herausstreckte, sondern Amadé. Und sie hielt mir ihren Materienkiesel entgegen.
    Was ist los?
    »Ich suche Marian. Es ist wichtig, es geht um …«, ich senkte die Stimme, »es geht um den Weißen Löwen.«
    Amadé nickte. Marian ist nicht hier. Er hat sich vorhin rausgeschlichen, als er dachte, niemand würde es bemerken, formte die Maserung des Steins.
    »Verstehe«, sagte ich und merkte erst jetzt, wie außer Atem ich war. Ich stemmte die Arme auf die Oberschenkel.
    Es tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wohin er gegangen ist.
    »Mhm«, machte ich und holte noch ein paarmal tief Luft, dann sah ich Amadé an. »Die habe ich schon.«
     
    Amadé bestand darauf, mich zu begleiten. Sie hakte sich einfach bei mir unter und weigerte sich, von meiner Seite zu weichen. Mittlerweile waren wir anscheinend so etwas wie Freundinnen geworden. Wieder durchzuckte mich der Schmerz darüber, dass Wiebke mich seit gestern ignorierte. Besonders als Amadé und ich wenig später gemeinsam durch die nächtliche Stadt wanderten. Nordwärts.
    Vielleicht täuschte ich mich, doch ich hatte das Gefühl, dass es heute wirklich ungewöhnlich kalt war, selbst für die Schattenwelt. Frost glitzerte auf dem Kopfsteinpflaster, den Denkmälern und Brunnen und ließ sie aussehen, als wären sie von Diamantsplittern überzogen. Unser Atem stieg in Wölkchen vor uns auf. Frierend hasteten wir über die Rue Monsieur le Coq, vorbei an Geschäften, Cafés und dem Kreml, in dem sich, wie ich mittlerweile erfahren hatte, das Ministerium für bergbauliche Angelegenheiten und Materienfragen befand.
    Außer uns waren nur wenige Wandernde unterwegs. Eine Frau, die eine große Hutschachtel vor sich hertrug, ein Mann, der, den Mantelkragen hochgeschlagen, an uns vorbeieilte, eine gräulich glimmende Zigarette im Mundwinkel. Unsere Schritte hallten von den Häuserwänden wider, als wir den Teil der Straße überquerten, an dem der Hades in einen Abgrund stürzte und begann, unterirdisch weiterzufließen. Links und rechts von uns reckten sich die ersten Lagerhallen des Schlotbaron in die Finsternis.
    Was kann er hier wollen?, fragte Amadé, die mir allen

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