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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Ernstes erklärt hatte, noch niemals zuvor in diesem Teil der Stadt gewesen zu sein. Sowohl das Industriegebiet als auch die Arbeitersiedlung wurde von den Wandernden anscheinend gemieden. Für Amadé war es lediglich der Ort, an dem die Schlafenden lebten und arbeiteten; was genau sie taten, darüber hatte sie nie nachgedacht. Ich weiß nur, dass hier die Schattenreiter des Kanzlers das Sagen haben. Es heißt, sie leben im Dunsterrost, einem riesigen Horst an der Grenze zum Nichts, gleich hinter der Arbeitersiedlung. Dort, wo der Kanzler sie von Schlafenden zu Monstern macht. Amadé sah mich ängstlich an.
    Ich zuckte mit den Achseln. »Diesen Horst habe ich bisher noch nicht gesehen.«
    Gut. Amadé wirkte erleichtert. Die Schattenreiter sind mir nämlich irgendwie … unheimlich. Die Leute erzählen sich, dass die Nähe des Nichts dafür sorgt, dass sie gar keine richtigen Menschen mehr sind, und –
    »Ich mag sie auch nicht besonders«, flüsterte ich und zog Amadé in eine Seitenstraße. Wir hatten den Platz des Schichtwechsels erreicht, aber natürlich würde ich nicht so dumm sein, ihn noch einmal zu überqueren. Von den Arbeitern fehlte im Augenblick zwar jede Spur, aber am Himmel waren gleich mehrere Schattenpferde auszumachen, die dort ihre Kreise zogen. »Wenn wir ihnen nicht in die Hände fallen wollen, sollten wir uns außen herumschleichen. Bleib im Schatten«, erklärte ich Amadé. Soweit ich wusste, hatte der Kanzler aufgehört, mich innerhalb Eisenheims beschatten zu lassen. Das sollte gefälligst auch so bleiben.
    Langsam bewegten wir uns durch das Labyrinth der Fabrikhallen und Schornsteine, Fördertürme und Umspannwerke. Der Geruch von heißem Öl und flüssigem Stahl lag in der Luft und mischte sich mit der Kälte zu etwas Beißendem. Allerorten stiegen Rauchwolken in die Höhe und um uns herum tobte ein einziges Hämmern und Dröhnen und Zischen. Anscheinend herrschte gerade Hochbetrieb.
    Amadé hatte sich erneut bei mir untergehakt und zuckte bei jedem plötzlichen Donnern zusammen. UNHEIMLICH, stand auf ihrem Materienkiesel, während wir uns weiter voranschoben, durch immer engere Gässchen. Einmal flog ein Schattenreiter direkt über unsere Köpfe hinweg, doch er bemerkte uns nicht.
    Und dann erreichten wir schließlich den Krawoster Grund. Der Anblick der Baracken schien Amadé ebenso zu erschüttern wie mich, als ich zum ersten Mal hier gewesen war.
    Wohnen die Schlafenden wirklich da drin?
    Ich nickte und steuerte auf das Haus mit der verklebten Fensterscheibe zu. »Dort habe ich ihn reingehen sehen.«
    Amadé runzelte die Stirn und strich sich das Haar hinter die Ohren. Ich klopfte.
    Zuerst geschah gar nichts, ich glaubte schon, es wäre niemand zu Hause, und wollte mich enttäuscht zum Gehen wenden. Doch da waren drinnen Schritte zu hören. Schwere, schlurfende Schritte, die sich näherten. Ein Schlüssel wurde herumgedreht und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Der Geruch ungewaschener Körper schlug mir entgegen und ich entdeckte ein Augenpaar, das misstrauisch zusammengekniffen wurde.
    »Ich würde gerne mit Marian Immonen sprechen«, sagte ich. »Mein Name ist Flora und es ist sehr, sehr wichtig. Ist er vielleicht bei Ihnen? Könnten Sie ihm sagen, dass ich hier bin? Es ist wirklich dringend.«
    Noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, wurde die Tür mit einem Knall ins Schloss geworfen. Wir warteten ein paar Minuten, doch die erneute Stille im Innern des kleinen Hauses erweckte nicht den Anschein, als würde irgendjemand irgendetwas ausrichten.
    Gemeinsam hämmerten Amadé und ich gegen die Tür. Immer wieder rief ich Marians Namen, so lange, bis sich der Schlüssel im Schloss wieder drehte und sich das Gesicht einer verängstigten alten Frau durch den Türspalt schob.
    »Machen Sie nicht so einen Lärm«, forderte sie und entblößte ihren zahnlosen Unterkiefer. »Sonst wird noch jemand aufmerksam! Ich kenne überhaupt keinen Marian. Verschwinden Sie.«
    Die Frau wollte die Tür wieder zuwerfen, doch dieses Mal war ich vorbereitet. Rasch schob ich meinen Fuß dazwischen. Gegen ihren Willen drängten Amadé und ich uns hinein.
    Das Haus bestand aus einem einzigen schmutzigen Raum. Weil das Vorderfenster verklebt war, fiel lediglich durch eine Luke an der Rückseite der Baracke ein wenig Licht herein. Gerade genug, um die Lumpenhaufen, die anscheinend als Betten dienten, nackte Wände, von denen der Putz bröckelte, und den kahlen Lehmfußboden, auf dem ein mageres Kind mit

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