Stadt aus Trug und Schatten
dreckverschmiertem Gesicht spielte, in ein Flirren zu tauchen. Diese Leute besaßen nicht einmal Stühle! Nur einen Herd in der Ecke, auf dem ein gräulicher Brei Blasen warf. Auch hier drinnen herrschten eisige Temperaturen.
Ich fröstelte, vor allem weil eines auf den ersten Blick zu erkennen war: Marian war nicht hier.
»Was wollen Sie von uns?« Die Frau funkelte uns zornig an. Ihr Gesicht war hager. Falten durchzogen es wie Gräben, obwohl ihre Augen noch jung wirkten. In der Hand hielt sie den fast haarlosen Besen, den ich gestern noch vor dem Haus hatte lehnen sehen. Sie hielt ihn wie eine Waffe, bereit, sich zu verteidigen.
Das Kind begann beim Anblick von Amadés entstellten Zügen zu weinen.
»Wir sind auf der Suche nach Marian«, sagte ich. »Ich weiß, dass Sie ihn kennen. Ich habe gesehen, wie er letzte Nacht hergekommen ist.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein. Verlassen Sie mein Haus.«
»Bitte«, rief ich und senkte die Stimme gleich darauf zu einem Raunen. »Es geht um den Weißen Löwen. Ich habe Informationen über ihn, die Marian interessieren werden. Bitte, Sie müssen mir sagen, wo er ist.«
Kaum hatte ich den Stein erwähnt, ließ die Frau den Besen sinken. Einen Moment lang zögerte sie noch, es war ihr anzusehen, dass sie abwog, ob sie uns trauen konnte. Dann ging sie wortlos zu dem Lumpenhaufen an der gegenüberliegenden Wand. Mit dem Fuß schob sie die Fetzen zur Seite, sodass eine darunterliegende Falltür sichtbar wurde.
»Er ist dort unten«, war alles, was die Frau sagte, bevor sie sich abwandte und müde ihren Brei rührte, als wären wir gar nicht da.
Amadé und ich tauschten einen fragenden Blick. Was um alles in der Welt tat Marian in einem Keller unter einer Arbeiterbaracke?
Ich wusste es nicht, aber ich würde es gleich herausfinden. Mit beiden Händen zog ich an dem schweren Eisenring, der als Griff diente, und öffnete die in den Boden eingelassene Klappe. Ich staunte nicht schlecht, als ich die Leiter sah, die darunter zum Vorschein kam. Der Keller wurde von Fackeln erleuchtet, die in Halterungen an den Wänden steckten, und die Leiter war lang. So lang, dass ich ihr Ende nicht ausmachen konnte. Meine Knie bekamen bereits einen weiteren Puddinganfall, und dass auf Amadés Materienkiesel die Worte Mann, das sind bestimmt hundert Meter! erschienen, machte es nicht gerade besser.
Ich zögerte, bis es mir klar wurde: Dies war der einzige Weg, den ich gehen konnte. Der Kanzler hatte auf mysteriöse Weise herausgefunden, was ich über die Pyramiden wusste. Ihm fehlte noch die entscheidende Information, wo ich den Weißen Löwen dort versteckt hatte. Doch das würde ihn sicher nicht davon abhalten, schon einmal gründlich zu suchen. Zwar verstand ich noch immer nicht, was geschehen war, doch der Kanzler, so viel hatte ich begriffen, durfte den Stein nicht bekommen. Niemals, denn er führte nichts Gutes im Schilde, das spürte ich. Deshalb musste ich ihn aufhalten. Dringender denn je musste ich die Wahrheit herausfinden und dazu brauchte ich Marian.
Entschlossen schwang ich die Beine über den Rand des Lochs und begann zu klettern. Sprosse um Sprosse stieg ich hinab, gefolgt von Amadé und dem unguten Gefühl, gänzlich unvorbereitet in eine fremde Welt vorzustoßen. Je tiefer wir kamen, umso wärmer wurde es. Von fern drang rhythmisches Hämmern an mein Ohr, ebenso wie vereinzelte Rufe und ein Quietschen, das ich nicht so recht zuordnen konnte. Dies war definitiv kein Keller, so viel stand fest. Und was immer Marian dort unten machte, er tat es wohl nicht allein.
Längst schmerzten meine Arme und Beine vom Klettern. Schweiß rann mir über Schläfen und Nacken und einen halben Meter über mir keuchte auch Amadé vor Anstrengung. Dennoch gönnten wir uns keine Pause. Weiter und immer weiter hangelten wir uns in die Tiefe. Erst als die Eintönigkeit unserer Bewegungen schon etwas Hypnotisches an sich hatte, erreichten wir das Ende der Leiter.
Wir befanden uns nun in der Nische eines Ganges, in dessen Mitte ein Schienenstrang entlangführte. Gerade schob ein Arbeiter eine mit schwarzen Kristallen beladene Lore darüber. Als er uns bemerkte, verzog er kurz das Gesicht, sagte jedoch nichts und hielt auch nicht an. Daher also das Quietschen, überlegte ich und erinnerte mich wieder einmal an meine Schulexkursion zur Zeche Zollverein in Essen. Fachmännisch betrachtete ich den Stollen und die von ihm abgehenden Quergänge, aus denen das Geräusch von
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