Stadt aus Trug und Schatten
schon«, sagte er. Es klang beinahe freundlich.
Mit einem Seufzen folgte ich den beiden Männern hinaus und durch einen von gräulich leuchtenden Fackeln erhellten Gang aus grob behauenem Stein, der an einem schmiedeeisernen Tor endete. Unversehens fand ich mich im Freien wieder.
Es war Nacht und wir betraten einen kleinen Platz, der von riesenhaften Wohnhäusern gesäumt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich die Silhouette einer Kirche, links und rechts zweigten mehrere Gassen ab, die ich in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Eisige Kälte schlug mir ins Gesicht, doch meine Kleidung erwies sich als erstaunlich wärmend.
»Es ist nicht weit«, sagte der alte Mann und hielt auf die Kirche zu. »Und du brauchst wirklich keine Angst zu haben.«
»In Ordnung«, sagte ich und ließ mich unauffällig ein paar Schritte zurückfallen.
»Ich werde Mafalda bitten, uns einen Tee zu kochen«, fuhr er fort und sah sich über die Schulter zu mir um, ein Lächeln auf den Lippen. Es gefror jedoch zu einer Maske, denn in diesem Moment rannte ich los.
Ich machte einfach auf dem Absatz kehrt und nahm die Beine in die Hand. Ohne zu überlegen, stürzte ich in die am nächsten gelegene Gasse.
»Warte!«, rief der Mann heiser. »Bleib hier!«
Doch ich achtete gar nicht auf ihn, rannte einfach immer weiter, ganz egal, wohin, bloß weg von diesen Leuten. Dunkel wuchsen die Häuser rechts und links neben mir empor. Nur hier und da drang ein Lichtschein aus den Fenstern und tauchte die Gasse in ein mattes Schimmern. Meine Schritte waren auf dem Kopfsteinpflaster beinahe lautlos. Ich hörte lediglich meinen eigenen fliehenden Atem und das Klopfen meines Herzens. Trotzdem spürte ich, dass ich verfolgt wurde.
Irgendwo hinter mir war Marian.
Und er holte rasch auf. Er war einfach so viel schneller als ich, schon erahnte ich einen Luftzug hinter mir.
Meine einzige Chance war die Dunkelheit. Ich konnte nur hoffen, dass es mir in der Finsternis gelang, ihn im Gewirr der Gassen abzuhängen. Schnell schlug ich einen Haken, lief wahllos um Kurven, zwängte mich zwischen zwei Häuserwänden hindurch in eine Querstraße und dachte schon, ich hätte es geschafft. Da bemerkte ich, dass ich in einer Sackgasse gelandet war.
Mit einem Satz war Marian bei mir und umfasste meine Schultern mit eisernem Griff. Ich wehrte mich, versuchte, mich ihm zu entwinden und nach ihm zu treten, doch es war zwecklos. Dennoch gab ich nicht auf, zappelte herum, so viel ich konnte, und schrie aus Leibeskräften um Hilfe, während mir der Geruch von Holz und Harz und Erde in die Nase stieg. Wald, schoss es mir durch den Kopf.
»Hiiiiiiilfeeeeeee!«, kreischte ich.
»Beruhige dich, Flora. Niemand hat vor, dir etwas zu tun!«, rief Marian und packte mich noch ein wenig fester. »Beruhige dich!«
»Ich will mich aber nicht beruhigen«, keuchte ich. »Hilfe! Hört mich denn keiner?«
Nirgendwo rührte sich etwas.
»Bitte«, versuchte Marian es etwas freundlicher. »Wir helfen dir. Komm mit mir, ja?«, sagte er und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ja?«
Ich schluckte, verwirrt, weil er so anders aussah als heute Nachmittag. Das blonde Haar hing ihm zerzaust und fast weiß in die Stirn und seine vorher grünen Augen wirkten in dieser seltsamen Stadt wie graue Murmeln. Wie glänzendes Glas. Etwas in seinem harten Blick traf mich tief in meinem Innersten, ohne dass ich es hätte fassen oder gar erklären können. Es war ein seltsam vertrautes und doch fremdes Gefühl. Der Ausdruck, der auf seinem ebenmäßigen Gesicht lag, erschütterte mich und beinahe meinte ich, so etwas wie einen Funken Zuneigung darin zu erkennen.
Aber zugleich spürte ich auch, wie ich furchtbar zornig wurde. »Was fällt dir eigentlich ein, dich zuerst in meine Familie und dann auch noch in meinen Traum einzuschleichen?«, fauchte ich und der Funke erlosch. »Ich kenne dich nicht. Ich mag dich nicht. Und ich brauche keine Hilfe, verstanden?«
Einen Augenblick lang taxierten wir uns. Dann kniff ich die Lippen zusammen, starrte betont an ihm vorbei, wartete. Ein paar Sekunden lang hielt Marian mich noch fest, dann lockerte sich sein Griff.
»Verstanden«, sagte er schließlich und ließ mich endgültig los. Abrupt wandte er sich um und ging. Ohne sich noch einmal umzusehen.
Verdattert und außer Atem sah ich ihm nach, bis er kurz darauf um die nächste Kurve verschwand. Ich war allein. Erschöpft hockte ich mich in einen Hauseingang und legte den Kopf in den Nacken. Meine
Weitere Kostenlose Bücher