Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
lenken würden, und es dauerte nicht lange, bis die Stille von einem Rauschen übertönt wurde, das langsam lauter wurde. Und deutlicher. Ich näherte mich den Geräuschen, erkannte bald Stimmen, hörte Motoren und Menschen. Neugierig bog ich um die nächste Ecke und befand mich plötzlich auf einer breiten Straße, die von Gaslaternen erleuchtet wurde.
    Ein bisschen kam es mir so vor, als wäre ich in einen alten Schwarz-Weiß-Film gestolpert: Zwischen Geschäften und Cafés mit Speisekarten in schnörkeliger Schrift flanierten Menschen jeden Alters. Sie alle trugen altmodische Kleidung, die Frauen schmale Kleider mit tief sitzenden Taillen und passenden Hüten, die Männer Einstecktücher und Spazierstöcke. Glänzende Oldtimer bahnten sich ihren Weg vorbei an spielenden Kindern und Litfaßsäulen, die für Varieté- und Theatervorführungen warben. »Rue Monsieur le Coq« stand auf einem eleganten Schild an einer der Hauswände.
    Andererseits bemerkte ich aber auch Dinge, die ich nie zuvor in einem solchen Film gesehen hatte. Menschen zum Beispiel, die von einer Sekunde zur nächsten aufflackerten und sich in Luft auflösten, während andere wie aus dem Nichts erschienen. Da war eine Frau, die gleich drei von diesen Ungeheuer-Hunde-Echsen Gassi führte, als wären es puschelige Haustiere. Und über den Köpfen der Leute schwebten zahlreiche Kugeln in der Größe von Fußbällen, die von innen heraus leuchteten und die farblosen Gesichter in ein sanftes Schimmern hüllten.
    Langsam wanderte ich die Straße entlang, wie eine Schlafwandlerin zwischen all diesen Leuten, die mich kaum beachteten. Mein Traum hatte mich jetzt ganz und gar gefangen genommen. Ich staunte über Villen und Stadthäuser aus einer anderen Zeit, Paläste und Plätze mit Springbrunnen und Denkmälern, die mich an Kohlezeichnungen auf alten Postkarten erinnerten. Einmal wäre ich beinahe gestolpert, als ich zu meiner Linken die vertraute Silhouette des Eiffelturms erkannte, hinter der sich unverkennbar die Zwiebeltürme des Kremls erhoben.
    Wenig später entfuhr mir ein erschrockener Aufschrei, als ein Lieferwagen einen Moment lang den Weg versperrte und der Oldtimer neben mir sich kurzerhand in die Luft erhob, um das Hindernis zu überfliegen. Das Auto drehte eine kleine Ehrenrunde um die Spitze eines Turmes, den ich für Big Ben gehalten hätte, wenn sich auf seiner Vorderseite anstatt der einen Uhr nicht gleich ein Dutzend Zifferblätter befunden hätte, die allesamt unterschiedliche Uhrzeiten anzeigten. Als habe ein irrer Architekt versucht, gleichzeitig alle möglichen Zeitzonen abzubilden, überlegte ich, brach dann jedoch mitten im Gedankengang ab. Mittlerweile war es wohl besser, gar nicht erst zu versuchen zu verstehen, was vor sich ging. Träume waren nun mal nicht logisch.
    So ging ich weiter und mit der Zeit wurde die Straße merklich schmaler und wieder dunkler. Es gab keine Geschäfte mehr, und wenn, dann waren die Schaufenster mit Brettern vernagelt. Die Häuser wurden hässlicher, verfallener. Der Kaffee, den ich hatte trinken wollen, fiel mir wieder ein, jetzt, da die Cafés weit hinter mir lagen. Immer weniger Menschen waren unterwegs und schließlich war ich allein.
    Dafür schlug mir nun der Geruch von heißem Öl und Abgasen entgegen. Um mich herum erhoben sich nach und nach Fabrikhallen und Schornsteine aller Art, aus denen schwarzer Qualm quoll, um sich wie Gewitterwolken an den lichtlosen Himmel zu heften. In der Ferne erkannte ich einen Förderturm, der mich an den der Zeche Zollverein erinnerte, die wir letztes Jahr mit unserem Geschichtskurs besucht hatten. Anscheinend war ich im örtlichen Industriegebiet gelandet.
    Trotzdem kehrte ich nicht um. Etwas, ein unbestimmtes Gefühl, zog mich weiter hinein in diese triste Gegend, bis ich schließlich auf einen Platz trat, über den dicke Nebelschwaden waberten. Feucht und grau hingen sie über dem schmutzigen Kopfsteinpflaster und nahmen mir die Sicht. Nur schemenhaft erkannte ich deshalb die Menschen, die in langen Reihen hintereinander hermarschierten. Sie wirkten abgekämpft, verhärmt. Und es waren so viele! Gesichtslos zogen Männer, Frauen und Kinder an mir vorbei. Eingehüllt in Lumpen und Erschöpfung strömten sie auf die Tore der Fabriken rings um den Platz zu, die sie dunklen Schlünden gleich zu verschlingen schienen, ihre Schritte ein einmütiges Schlurfen.
    Langsam bahnte ich mir meinen Weg zwischen den Arbeitern hindurch. Ihre müden Augen schienen mich nicht

Weitere Kostenlose Bücher