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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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einmal zu registrieren. Ich hingegen erkannte mehr und mehr Einzelheiten, eingefallene Wangen, knochige Schultern. Und das Gesicht eines Mädchens!
    »Lena!«, rief ich verwundert, als ein Mädchen mit buschigen Brauen und Akne sich an mir vorbeischob. Das war eindeutig Lena aus meiner Klasse! Doch sie reagierte gar nicht, blickte nicht einmal auf. »Lena! Warte doch mal, ich …«
    Es war ein Fehler. Meine Stimme hallte über den Platz und die trägen Schritte hinweg, als hätte ich in ein Megafon gesprochen. Über mir zerriss ein Wiehern die Nacht und ich begriff, dass mein Mundwerk mal wieder schneller als mein Verstand gewesen war. Jemand war auf mich aufmerksam geworden. Jemand, der ganz und gar nicht so klang, als wolle er mich nur höflich bitten, das Werksgelände zu verlassen.
    »Da! Da ist wer, ein Mädchen!«, rief jemand außerhalb meines Blickfeldes. Ich legte den Kopf in den Nacken und staunte.
    »Haltet sie! Lasst sie nicht entkommen!«, forderte eine männliche Stimme irgendwo weiter oben.
    »Ich übernehme das«, antwortete eine andere, während ich mich bemühte, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Zu fasziniert war ich von dem, was sich in der Höhe über dem Platz abspielte, von den Wesen, die dort ihre Kreise zogen.
    Zuerst sah ich nur die Hufe des riesenhaften Pferdes, das sich schwarz glänzend aus dem Himmel schälte. Dann erkannte ich die mächtigen Schwingen. Seidig hoben und senkten sie sich in der Dunkelheit, während der meterlange Schweif in der Nachtluft wehte. Beinahe elegant lenkte der Reiter, ein Mann mit Backenbart und Zylinder, das Tier durch die Luft, gab ihm die Sporen und wies es an, auf mich herabzustürzen wie ein Raubvogel. Ich fühlte, wie die glühenden Augen des Pferdes mich fixierten.
    Endlich rannte ich los.
    Zum zweiten Mal in dieser Nacht ergriff ich die Flucht. Blind wand ich mich zwischen den Arbeitern hindurch, drängte sie zur Seite und spürte, wie sich die Lücken hinter mir gleich wieder schlossen. Unmöglich zu sagen, ob die Leute mir helfen wollten oder schlicht so schnell wie möglich wieder ihre Plätze einnahmen wie zurückschnellende Gummibänder. In diesem Moment war es mir aber auch egal.
    Das pechschwarze Ross flog jetzt direkt über die Köpfe der Menschen hinweg, wieherte kreischend. Ich duckte mich, stürzte voran. Gleich hatte ich das Ende des Platzes erreicht. Die von den mächtigen Flügelschlägen aufgewirbelte Luft wehte mir die Haare ins Gesicht. Einen Moment lang sah ich gar nichts mehr, nur die Finsternis. Dann bemerkte ich neben mir eine weitere Gestalt. Ein Mann, abgemagert und schmutzig, rannte mit mir durch die Menge.
    »Jetzt oder nie!«, keuchte er. »Ich habe es satt, für einen Hungerlohn in diesem Drecksloch zu schuften.«
    »Stehen bleiben«, rief der Reiter über uns.
    »Niemals!« Der Mann beschleunigte noch einmal, zog an mir vorbei und …
    … lief einem zweiten geflügelten Pferd genau vor die Hufe. Ich erkannte noch, wie das Wesen den Kopf senkte. Das im nächsten Augenblick ertönende Knirschen jagte mir einen Schauer über den Rücken. Der Mann schrie auf. Dann das Geräusch eines Körpers, der auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug. Und Flügelschläge. So nah! Ich spürte heißen Atem in meinem Nacken. Aber da, war das nicht das Ende des Platzes? Blind stürzte ich in die nächstbeste Gasse. Es war kaum mehr als ein Spalt zwischen zwei Fabrikhallen, der mich rettete. Noch war mein Verfolger mir auf den Fersen, doch der Durchgang war zu schmal und zwang Reiter und Pferd wieder in die Höhe.
    »Wo ist sie?«, rief jemand zornig. »Haben Sie sie etwa verloren?«
    »Nein, gleich hier unten …« Die Stimme brach ab, denn ich hatte mich in die finstere Nische unter einer Betontreppe geworfen. Unsanft landete ich auf meinen Knien, während die Flügelschläge leiser wurden, sich hoffentlich entfernten.
    »Uups«, flüsterte jemand direkt neben mir.
    Ich zuckte zusammen. Mit einem Satz wirbelte ich herum und wäre vor Schreck beinahe wieder aus meinem Versteck herausgesprungen. Der Geruch eines ungewaschenen Körpers stieg mir in die Nase. Vor mir erkannte ich das Gesicht eines Mannes. Es wirkte teigig und starrte vor Dreck, genauso wie die zerschlissene Jacke und die Hose, deren linkes Bein über dem Knie abgeschnitten und zugenäht worden war, weil Schenkel und Fuß darunter fehlten. Halb saß der Mann, halb lag er. Sein Kopf war ein wenig zu groß für seinen mageren Körper und an manchen Stellen kahl, als habe ihm jemand

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