Stadt aus Trug und Schatten
schaler Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Endlich begriff ich, warum die Menschen in der Stadt ihn so hassten. Und ich wusste nun, warum er Dreck aß. Dreck, der in Wahrheit die Asche seiner Gliedmaßen war! Noch immer wütete der Schmerz in meiner rechten Körperhälfte und brach nun mit solcher Wucht durch meine Gedanken, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich taumelte, meine Knie sackten weg und dann, kurz bevor ich tatsächlich fiel, war es vorbei.
»Und?«, fragte der Kanzler, als ich endlich wieder klar sehen konnte. »Überzeugt?«
Ich schwieg, während Marian sich vor mich schob wie ein menschlicher Schutzschild. Wie damals im Schulgarten. An seinen breiten Schultern vorbei sah ich zu Barnabas hinüber, der mich anlächelte. Die Erinnerung an den Schmerz ließ meinen Körper erzittern. Würde ich das Ganze noch einmal aushalten können?
Das schien sich auch Fluvius Grindeaut am Fuße der Treppe zu fragen. Noch immer hielten die Schattenreiter ihm die Arme auf den Rücken, doch das hinderte ihn nicht daran, sich krächzend zu Wort zu melden. »Er darf den Stein nicht bekommen, das weißt du«, beschwor er mich. »Unter keinen Umständen!«
Ich nickte und atmete tief ein, wartete darauf, dass der Bettler sich an Marian vorbeikämpfte und erneut nach mir griff. Aber Barnabas rührte sich nicht. Stattdessen erklang das schallende Lachen des Kanzlers, der sich dem Großmeister zuwandte.
»Natürlich nicht, alter Mann!«, rief er. »Sie sollte den Weißen Löwen besser zu Ihnen bringen, nicht wahr? Da Ihre Absichten schließlich so edel sind.«
Fluvius Grindeaut hob den Kopf. Voller Stolz blickte er in die Runde. »Das sind sie in der Tat«, sagte er.
Wieder lachte der Kanzler. »So edel, dass Sie all Ihre Verbündeten belügen mussten?«, spottete er. »So edel, dass niemand wissen darf, woran Sie seit Neuestem in Ihrem Wald von einem Labor herumwerkeln?«
Der Großmeister senkte weder den Blick, noch verriet seine Miene seine Gedanken.
Sehr langsam trat Marian auf ihn zu. »Der Stein soll zerstört werden, und zwar so schnell wie möglich«, sagte er. »Und an einer Möglichkeit, dies zu tun, haben Sie gearbeitet. So ist es doch, oder? Sie würden uns doch niemals belügen.«
»Oh nein, niemals würde er das!«, rief der Kanzler übertrieben theatralisch. Der Nachklang seiner Worte hing gellend vor Hohn in der Luft zwischen uns. Fluvius Grindeaut presste die Lippen aufeinander und schwieg.
»Doch«, flüsterte ich, während vor meinem inneren Auge eine Flut von Bildern aufzog. »Solltestnich hierseinflora« , lallte der Großmeister in seinem unterirdischen Labor. Ich stand zwischen gläsernen Stämmen und Farnen und starrte auf den riesigen Baum im Zentrum der Höhle. In seinem Wurzelwerk war eine Klappe geöffnet worden, ich entdeckte Zahnräder und Adern, in denen eine dunkle Flüssigkeit pulsierte, die bis hinauf in die feinsten Verästelungen der Krone gepumpt wurde. Zweige, die sich ineinander verschlungen hatten zu … einer Halterung, wie geschaffen, um den Weißen Löwen hineinzusetzen! Kalte Wut kroch mir die Kehle hinauf. Spielte denn hier jeder ein falsches Spiel?
»Sie besitzen ebenfalls ein kosmologisches Materiophon!«, stieß ich hervor. »Sie wollen den Stein gar nicht zerstören!«
Marian wirbelte zu mir herum. Verwirrung lag auf seinen Zügen. Und eine seltsame Mischung aus Zorn und Furcht. Doch ich beachtete ihn kaum, meine Aufmerksamkeit galt dem ehrwürdigen Großmeister des Grauen Bundes.
»Ich …«, begann dieser und räusperte sich. Erst jetzt fiel mir auf, wie schwer der Alkohol seine Zunge auch in dieser Nacht machte. Anscheinend hatte er sich die Zeit, in der er auf mich gewartet hatte, mit dem einen oder anderen Schluck vertrieben. Dennoch setzte er zu einer Erklärung an. »Ich habe euch nicht belogen. Der Stein sollte zerstört werden, so lautete der Plan. Und als ich ihn euch verkündete, war ich vollkommen davon überzeugt, das Richtige zu tun. Später jedoch …« Verzweifelt bäumte er sich im Griff der Schattenreiter auf. »Du selbst sprachst davon, die ungeheuren Kräfte des Weißen Löwen nicht ungenutzt zu vergeuden, Marian. Ich habe darüber nachgedacht, viele Nächte lang, bis ich erkannte, wie viel Gutes der Stein unserer Welt zu geben imstande ist. Mit seiner Hilfe könnte ich die Wirkung der Dunklen Energie um ein Vielfaches verstärken. Nach und nach könnten wir alle Schlafenden von ihrer Unwissenheit erlösen und in den Kreis der Wandernden
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