Stadt aus Trug und Schatten
und welchen Schrecken die Schattenreiter ihnen eingejagt hatten. Würde das Portal erst mit der Kraft des vollständigen Steins betrieben, gewänne der Kanzler auch in der realen Welt die Oberhand. Seine Schattenreiter würden für alle und jeden sichtbar und gefährlich werden, sie würden ein Schreckensregiment errichten. Ich erschauderte bei dem Gedanken daran, wie er die Schlafenden auch in der realen Welt würde versklaven können.
»Der Kanzler bekäme, was er will. Das Gleichgewicht der Welten wäre dahin. Marian! Du weißt, dass das nicht passieren darf.«
Marian nickte abgehackt. Ich sah, wie die Verzweiflung über seine Züge huschte. »Aber sie ist meine Schwester«, sagte er heiser. »Und ich bin der Einzige, den sie noch hat. Muss ich nicht alles tun, um sie zu retten? Muss ich nicht wenigstens alles versuchen? Du weißt nicht, wie es für sie ist.« Er hatte die Hand erneut gehoben. Unendlich langsam, jedoch mit schlafwandlerischer Sicherheit, bewegte sie sich auf die Innentasche meines Mantels zu. »Ich ertrage es nicht länger, mitanzusehen, wie sie leidet.«
»Tu das nicht«, flüsterte ich.
»Habe ich denn eine andere Wahl?« Er senkte die Lider, um meinem Blick auszuweichen. Seine Fingerspitzen strichen über den Stoff.
Ich schloss meine Faust fester um die Waffe in meiner Hand. Würde ich sie nun doch gegen Marian richten? Musste ich den Weißen Löwen nicht mit allen Mitteln verteidigen? Hatte ich nicht eine Verantwortung gegenüber den Welten?
»Tu … das … nicht!«, wiederholte ich Wort für Wort und spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. »Bitte«, flüsterte ich. »Bitte, tu das nicht!«
Marian presste die Lippen aufeinander, bis sie bleich waren wie die eines Toten.
Mein Körper zitterte. Ich hielt die Luft an und – »Pardon, meine Dame. Was sehe ich da? Belästigt Sie dieser Herr?«
Wie vom Blitz getroffen fuhren Marian und ich gleichzeitig herum. Am Fuße der Treppe stand jemand, ein Mann mit nur einem Bein und borstigem Haar. Er trug Lumpen, die Reste eines Fracks, der ihm in Fetzen um die mageren Schultern hing. An seinem Mund klebten gräuliche Bröckchen, die vielleicht Ascheklumpen waren.
Vor uns stand Barnabas, der Bettler.
Sein Blick ruhte auf der glühenden Sichel.
22
WAHRHEITEN
Sprachlos starrten wir ihn an. Mein Mund klappte auf und zu, doch kein Ton kam heraus. Marian ließ seine Hand sinken und rückte näher an mich heran.
»Wie ich sehe, leistet mein Geschenk Ihnen treue Dienste«, sagte der Bettler und entblößte grinsend eine Reihe fauliger Zahnstummel.
Neben mir versteifte sich Marian. »Was hast du mit ihm zu schaffen?«, fragte er und ich erschrak über die Schärfe, die in seiner Stimme lag.
»Ich habe ihn in meiner ersten Nacht in Eisenheim getroffen und …« Ich betrachtete abwechselnd Barnabas und die Sichel, die er mir gegeben hatte, während sich in mir ein merkwürdiges Gefühl breitmachte. Ich spürte, dass ich kurz davorstand, mich an etwas zu erinnern.
»Weißt du denn nicht, wer das ist?«, fragte Marian.
Ich dachte an die aufgebrachte Menschenmenge, die johlend dabei zugesehen hatte, wie ein Hüne Barnabas den Kiefer ausrenkte. In diesen Leuten war so viel Hass gewesen und plötzlich wusste ich, dass dieser Hass gerechtfertigt war.
»Und, Barnabas? Hast du sie?«, rief eine vertraute Stimme von oben die Treppe herab.
Im nächsten Moment betrat der Eiserne Kanzler die Höhle.
Er trug einen seidenen Zylinder und einen dazu passenden Mantel. Ein siegessicheres Lächeln umspielte seine Lippen, als er mich entdeckte. Zornig biss ich die Zähne aufeinander, während hinter ihm zwei Schattenreiter die Treppe hinabstiegen. Zwischen sich schleiften sie einen vor Wut schäumenden Fluvius Grindeaut die Stufen herunter.
»Ich bin erfreut«, sagte der Kanzler und strahlte in die Runde, »dass wir uns nun endlich alle hier in dieser … Grotte versammelt haben. Wirklich, Flora, ein nettes Versteck für unseren kleinen Liebling. Sie sind klüger, als ich dachte.« Er zwinkerte mir zu. »Aber die Sache mit dem Telechromaten haben Sie glücklicherweise dann doch nicht durchschaut.«
Telechromat? Es kam mir vor, als habe die Sichel in meiner Hand gerade ihr Gewicht verdoppelt. Aus der Tasche seiner Weste beförderte der Kanzler einen identischen Metallbogen hervor. Auch er glühte, allerdings in einem satten Rot.
»Dieses unscheinbare Gerät ist eine meiner neuesten Erfindungen. Es ermöglicht, Gedanken von einer Person zu einer
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