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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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aussehen. Älter. Zorniger. Verzweifelter.
    »Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin? Wie hast du mich gefunden?«, stieß ich hervor.
    »Ich stand schon eine Weile hinter dir, als du heute Morgen online recherchiert hast«, sagte Marian ungehalten. »Aber das ist doch jetzt egal. Hör zu: Ja, ich weiß, ich habe dir nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt und das war falsch. Aber ich habe unsere Sache nicht verraten. Ich liebe dich, Flora, und ich brauche den Stein nicht für mich selbst, ich –«
    Er benutzte beinahe die gleichen Worte wie in meiner Erinnerung. Bei ihrem Klang wurde mir schlecht.
    »Halt den Mund«, rief ich und erschrak selbst darüber, wie schrill meine Stimme von der Felsengrotte widerhallte. »Du hast mich belogen, die ganze Zeit über. Du wolltest den Weißen Löwen gerade gewaltsam an dich bringen. Und gestern, gestern hast du ein Ungeheuer auf Amadé und mich gehetzt! Ich frage mich wirklich, wer hier wen töten will.« Die Sichel in meiner Hand zitterte.
    Wie in Zeitlupe nickte Marian. Dann schüttelte er den Kopf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und seufzte. »Aber heute Nachmittag habe ich dir geholfen, deine Freunde zu retten, weißt du nicht mehr? Ich war verletzt und wütend auf dich, aber ich bin nicht dein Feind, Flora, das musst du mir glauben. Die Sache ist nun mal die …« Er zögerte, ich konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, die nächsten Worte über die Lippen zu bringen. Gerade so, als bereite es ihm körperlichen Schmerz. »Das Ungeheuer in den Minen ist meine kleine Schwester«, sagte er schließlich langsam und beinahe tonlos. »Und ich habe sie nicht auf euch gehetzt. Ich habe sie beruhigt, damit sie euch nichts tut.«
    Ich starrte ihn an. Hatte ich mich verhört? Hatte er wirklich gerade …? »Äh … Schw- … Schwester?« ,stammelte ich. »Das ist Ylva?«
    »Ja«, sagte Marian und machte vorsichtig einen Schritt auf mich zu. »Manchmal geschieht es, dass eine Seele krank geboren wird. In der realen Welt ist sie kerngesund. Sie ist ein kluges Mädchen. Doch Nacht für Nacht, wenn sie wandert, verändert sich ihr Geist und sie wird zu diesem … Wesen, das kaum weiß, was es tut. Und jeden Morgen erwacht sie mit der Erinnerung daran, Schreckliches getan zu haben, und mit dem Wissen, es schon bald wieder zu tun. Denn sie ist eine Wandernde, Flora. Wenn sie sich wenigstens nicht erinnern könnte …« Er kam noch ein Stück näher. »Meine Eltern waren berühmte Wissenschaftler. Sie haben das kosmologische Materiophon entwickelt, um meine Schwester mithilfe des Weißen Löwen zu heilen. Der Kanzler erfuhr davon und ließ meine Eltern ermorden, um die Maschine in seine Gewalt zu bringen. Er wollte sie für seine Zwecke nutzen und ein Portal in die reale Welt erschaffen. Und Ylva hat er gleich mitgenommen.«
    »Warum?«, flüsterte ich.
    »Meine Eltern waren beinahe fertig mit der Arbeit an ihrer Erfindung, sie hatten Ylvas Seele bereits mit der Maschine verflochten. Meine Schwester kann sich seither nicht weiter als ein paar Meter von dem Ding entfernen. Nur wenn man den Weißen Löwen in die vorgesehene Halterung einsetzt, kann die unsichtbare Kette gelöst und Ylva befreit werden.« Er lachte bitter auf. »Dem Kanzler gefiel es natürlich, solange das Materiophon noch nicht vollständig umgebaut war, ein mitgeliefertes – wie du es nennst – Ungeheuer zur Bewachung zu haben.«
    Ich ließ die Sichel sinken. Wir standen mittlerweile nah voreinander, ich hätte mich nur auf die Zehenspitzen stellen müssen, um einen Kuss auf Marians blasse Lippen zu drücken. Am liebsten hätte ich genau das getan. Ich sog den Duft von Holz und Erde ein und fühlte die Wärme seines Körpers unter seinem weiten Mantel. Doch etwas hielt mich zurück.
    »Warum«, begann ich. »Warum hast du mir all das nicht schon früher erzählt?«
    Marian schwieg. Er schloss für einen Moment die Augen und ich bemerkte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, während ich die Antwort in seinem Gesicht las.
    »Weil du wusstest, dass du den Weißen Löwen in die Maschine würdest einsetzen müssen und uns damit alle verraten«, stieß ich hervor. »Fluvius Grindeaut, meinen Vater, mich. Eisenheim und die reale Welt«, zählte ich auf und jetzt war ich es, die ihren Blick in seinen bohrte. »Der Durchgang würde geöffnet werden. Egal, wie kurz du den Stein einsetzen würdest.«
    Sein Mund zuckte, während ich sprach, und verriet, dass ich recht hatte. Ich dachte an Wiebke und Linus

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