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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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aufnehmen.« Seine Augen leuchteten. »Begreift ihr denn nicht, wie großartig das wäre?«
    Was hatte der Großmeister noch beim Treffen der Verfechter der Freiheit des Schlafes gesagt? »Genügt es denn, wenn die Schlafenden nicht mehr für uns schuften müssen? Fängt die wahre Freiheit nicht bereits im Kopf an?«
    Der Kanzler sah mich an. »Wäre das nicht wahrhaft großartig?«, fragte er und wurde mit einem Mal sehr ernst. »Nein, es wäre unser Untergang«, sagte er leise.
    Fassungslos sah ich von dem Mann, der das Gleichgewicht der Welten aufs Spiel setzen und einen Durchgang in die reale Welt schaffen wollte, zu dem Mann, der alle Menschen, ohne sie zu fragen, zu Wandernden zu machen gedachte. Sowohl das eine als auch das andere bereitete mir Bauchschmerzen. Sicher, es war nicht recht, die Schlafenden in Eisenheim auszubeuten wie Sklaven. Aber durfte man deshalb ahnungslose Menschen dazu verdammen, für immer dieses merkwürdige Leben in zwei Welten zu führen? Ich dachte daran, was dies bei meinem Vater angerichtet hatte und wie es mir damit ging, eine Wandernde zu sein …
    »Wären Flora und Mafalda nicht dahintergekommen und hätten sie sich nicht gegen mich verschworen, ich hätte es schon längst getan«, rief Fluvius Grindeaut. »Dann wäre diese Welt eine bessere Welt!«
    Ich schüttelte den Kopf. Endlich begriff ich, warum meine Seele den Weißen Löwen versteckt hatte. Und warum ich zur Wandernden geworden war. All das hatte ich nur getan, um den Stein zu beschützen!
    Mein Blick fiel auf Marian, der mich vor wenigen Minuten noch hatte bestehlen wollen. Der wusste, welche Konsequenzen sein Handeln haben würde, und der doch nicht anders konnte.
    Der alte Mann, der unsterbliche Kanzler und Marian, der mir alles bedeutete, alle drei standen sie da und schauten mich an. Mich, die den Schlüssel zu ihrem sehnlichsten Wunsch unter ihrem Mantel barg.
    Der Weiße Löwe pochte an meiner Brust, als wäre er mein Herz, ein Teil von mir, eine innere Stimme, die nach mir rief. Ohne nachzudenken, tastete ich nach ihm, umschloss ihn mit meiner Faust und fühlte die Macht, die von ihm ausging. Mit einem feinen Prickeln überzog sie meine Haut und ich fragte mich, ob sie mir nicht dabei helfen konnte, diesen Wahnsinnigen hier unten zu entkommen.
    Einen Wimpernschlag lang zögerte ich noch. Dann stürzte ich los. Ich stolperte mehr, als dass ich rannte, und versuchte, mich zwischen Marian und dem Kanzler hindurchzudrängeln. Dank des Überraschungsmoments schaffte ich es tatsächlich zwei Meter in Richtung Treppe, bevor sich die verdutzten Männer regten. Im nächsten Augenblick versperrte der Bettler mir den Weg.
    Ich hielt inne und suchte nach einer Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen, aber selbst mit seinem einen Bein war er jeder meiner Bewegungen einen Sekundenbruchteil voraus. Der Stein in meiner Hand war warm und durch den Stoff meines Mantels hindurch sah ich, dass er sachte glomm. Kaum mehr als ein Funkeln, doch hell genug, dass nicht nur ich es bemerkte.
    »Sieh an«, sagte der Kanzler. In seinen Augen flackerte ein Hauch von Ehrfurcht auf, als er an mich herantrat, den Blick unverwandt auf das Leuchten unterhalb meines Schlüsselbeins gerichtet. »So nah«, flüsterte er und streckte die Finger seiner weißen, feingliedrigen Hand in meine Richtung wie Spinnenbeine. »So nah ist er.«
    Ich drückte den Weißen Löwen fester an mich. Schmerzhaft bohrten sich seine Kanten in meine Haut. Das Licht wurde noch ein wenig heller, doch ansonsten geschah nichts. Dabei redeten alle andauernd von den phänomenalen Kräften des Steins! Konnte er da nicht ein paar winzige Blitze abfeuern oder mich sonst irgendwie beschützen? Ich betete, dass er es tat, während die Hand des Kanzlers sich bebend auf mich zubewegte. Doch der Stein blieb ein Stein. Ein wertvoller, glühender Stein. Ein Teil von mir. Aber nicht mehr.
    Schließlich konnte ich nicht länger warten. Erneut stürzte ich nach vorn, direkt auf den Bettler zu. Vielleicht gelang es mir ja, ihn zur Seite zu stoßen.
    Noch ehe ich meine Schulter in Barnabas’ Brust rammen konnte, warf sich Marian zwischen uns. Zuerst glaubte ich, er habe es wieder auf den Stein abgesehen, dann erkannte ich jedoch den hölzernen Stab in der Hand des Bettlers. Er war denen der Kämpfer des Grauen Bundes nicht unähnlich, bloß bedeutend kürzer und an beiden Enden mit eisernen Nieten besetzt. Marian glitt mitten in den Schlag hinein, der eigentlich für mich bestimmt gewesen

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