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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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anderen zu teleportieren, ohne dass der Beraubte es überhaupt merkt, und lässt sich auf beliebige Themen programmieren«, sagte er und klang dabei wie ein Sprecher im Teleshoppingkanal. Ich dachte an den seltsamen Helm, den ich im Labor des Großmeisters gesehen hatte. Gedankenübertragung!
    »Fantastisch, nicht wahr, Flora? Wann immer Sie den Telechromaten benutzt haben, hat er mir Stück für Stück Ihre wiederkehrenden Erinnerungen zum Weißen Löwen übermittelt. Ich wusste, wenn es Barnabas gelingt, ihn Ihnen unterzuschieben – und das hat nebenbei bemerkt hervorragend funktioniert –, wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis Sie anfangen, ihn zu benutzen. Vor allem, wenn meine Schattenreiter ein wenig nachhelfen und Sie dann und wann in Panik versetzen.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Gegen mich ist er selbstverständlich wirkungslos, wie Sie bereits gemerkt haben. Nur für den Fall, dass Sie auf dumme Gedanken kommen sollten.«
    Das metallische Klirren zu meinen Füßen wies darauf hin, dass ich die Sichel vor Entsetzen fallen gelassen haben musste. Ich dachte daran, wie ich gegen den Schattenreiter und die Sirenen gekämpft und erst gestern Nacht versucht hatte, den Kanzler anzugreifen. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, dass ich jedes Mal den neuesten Stand meiner Erinnerungen weitergegeben hatte. Dabei hatte ich dieses seltsame Prickeln in meinen Schläfen doch gespürt. Hätte es mir nicht eine Warnung sein müssen? Ich senkte den Blick. Nun war es zu spät.
    »Deshalb wussten Sie von den Pyramiden!«, sagte ich.
    Der Kanzler nickte. »Und deshalb weiß ich jetzt auch vom Grund des Sees.«
    »Dann haben die Schattenreiter mich nur verfolgt, um mir Angst zu machen? Sie wollten mich nie wirklich fangen oder beschatten?«
    »Oh doch. Beides, Flora, beides. Ich bin zu alt und habe zu viel erlebt, um nur auf eine Karte zu setzen«, sagte er und trat einen Schritt auf mich zu, bis er so nah vor mir stand, dass ich seinen Atem im Gesicht fühlte. »Und Ihre kleinen Freunde ein wenig in Panik zu versetzen, war auch nicht ganz unamüsant. Ich wusste, Sie würden ihnen zu Hilfe eilen und den Telechromaten noch einmal in die Hand nehmen.«
    Gleißende Wut stieg in mir auf. Doch der Kanzler lächelte mich nur weiter an, als wäre das alles nichts weiter als ein Spiel. »Und jetzt«, flüsterte er, »holst du mir den Stein.«
    Ich blinzelte. Zentnerschwer ruhte der Weiße Löwe in der Tasche meines Mantels. Ich spürte ihn so deutlich an meiner Brust, als wäre er ein lebendiges Wesen. Doch der Blick des Kanzlers war auf den lackschwarzen See hinter mir gerichtet, was nur eines bedeuten konnte – der Kanzler wusste es nicht. Aus irgendeinem Grund wusste er nicht, dass ich bereits getaucht war! Und er dachte an nichts anderes als an seinen Triumph. Nicht einmal meine nassen Haare und Kleider fielen ihm auf. Ich straffte die Schultern und funkelte ihn an. Solange ich die Sichel nicht wieder aufhob und damit kämpfte, war mein Geheimnis sicher.
    »Niemals«, sagte ich mit fester Stimme. »Niemals werde ich den Weißen Löwen für Sie heraufholen.«
    »Ja«, sagte der Kanzler. »Das dachte ich mir. Barnabas?« Er winkte den Bettler zu uns heran.
    Seelenruhig schlenderte Barnabas auf mich zu, hob die Hand und griff mit Daumen und Zeigefinger in meine Halsbeuge, wo sich augenscheinlich ein wichtiger Nervenpunkt befand. Der Schmerz jedenfalls durchzuckte mich so plötzlich und heftig wie der Stich einer glühenden Nadel, die in mein Fleisch getrieben wurde. Über die Schulter, den Arm hinunter und bis in meinen rechten Lungenflügel raste er, gleißend und scharf. Ich schrie auf. Keuchte. Wie aus weiter Ferne drang die Stimme des Bettlers an mein Ohr: »Sie ist ganz nass, Herr!«
    Doch der Kanzler schien es gar nicht wahrzunehmen.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Marian versuchte, Barnabas zur Seite zu stoßen, doch der verstärkte nur seinen Griff, sodass mir für ein paar Sekunden die Luft wegblieb. Und in diesem Moment erinnerte ich mich.
    Barnabas war kein Bettler. Er war einer der engsten Gefolgsleute des Kanzlers. Sein Folterknecht, von dem man in ganz Eisenheim nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Barnabas, dessen größte und einzige Leidenschaft der Schmerz war. Barnabas, der nicht leben konnte, ohne sich und anderen Leid zuzufügen. Von dem man munkelte, er habe sein eigenes Bein verbrannt, Scheibchen für Scheibchen, und die Asche gegessen. Barnabas, der Amadé auf dem Gewissen hatte!
    Ein

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