Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
Vom Netzwerk:
Graldingen und Mylchen, die Viertel der Wandernden, zwischen denen sich der Grind mit dem Palast des Schattenfürsten erhebt wie ein Buckel.«
    Ich betrachtete den felsigen Hügel in der Ferne.
    »Und ganz dort hinten liegt das Backand, der Stadtteil der Künstler, der im Grunde aus einem einzigen riesigen Haus besteht. Wir beiden müssen allerdings nach Krummsen, wo schon seit Langem kaum noch jemand lebt. Seit das Nichts, das die Stadt umgibt, eines Nachts vor etwa dreihundert Jahren unseren Nachbarstadtteil Schlund mit all seinen Bewohnern verschluckt hat, befürchten viele, Krummsen könnte als Nächstes an der Reihe sein.«
    Ich kniff die Augen zusammen, um den Schlund zu betrachten. Doch dort, wo er anscheinend einmal gewesen war, war nun nichts mehr. Nichts als das Nichts.
    Ich erschauderte. »Sieht gruselig aus.«
    Marian nickte. »Damals sind viele Wandernde gestorben. Niemand weiß, was hinter dem Nichts liegt, vielleicht andere Städte wie diese. Und es heißt, im Nichts selbst würden schaurige Kreaturen hausen.« Seine Augen leuchteten bei diesen Worten.
    Ich hob die rechte Braue. »Das macht es nicht weniger gruselig.«
    Er seufzte. »Nein. Allerdings kannst du beruhigt sein, das Nichts bewegt sich nur etwa alle achtzig bis hundert Jahre und das letzte Mal ist es vor etwa zehn Jahren geschehen. Im Moment droht also keine Gefahr. Eine ganze Kompanie von Wissenschaftlern forscht auf Hochtouren nach den Ursachen des Nichts und einer Möglichkeit, es aufzuhalten. Mittlerweile glaubt man, es könnte sich aus den Schadstoffen gebildet haben, die seit einer halben Ewigkeit von der Industrie in den Himmel gepustet werden.«
    Marian sprach noch weiter, aber ich hörte nicht länger zu. Seine Worte mischten sich mit dem Dröhnen der Motoren. In meinen Gedanken verschwamm alles, was ich heute gesehen und gehört hatte, zu einem klebrigen Brei. Namen und Erklärungen schwirrten mir im Kopf herum. So vieles war in den letzten Stunden auf mich eingestürmt. Ich hatte das Gefühl, mein Schädel würde jeden Augenblick platzen vor lauter unbeantworteter Fragen, von denen mir von Sekunde zu Sekunde mehr in den Sinn kamen. Vor allem, als zuerst der Säugling auf dem Arm der Frau vor mir verschwand und wenige Sekunden später auch von der Frau selbst nichts mehr zu sehen war.
    »Sie sind aufgewacht«, flüsterte Marian, der meinen verwirrten Blick auffing. »Normalerweise ist es natürlich höflicher, nicht in der Öffentlichkeit zu wandern. Aber in manchen Situationen lässt es sich nicht vermeiden …«
    Ich starrte ihn an. »Was ist denn, wenn der Pilot dieses Luftschiffes plötzlich aufwacht? Dann stürzen wir doch sicher ab.« Panik beschlich mich, doch Marian lächelte.
    »Keine Sorge. Bei Schlafenden in wichtigen Funktionen messen wir mithilfe einer Elektrode am Handgelenk die Schlaftiefe, sodass wir rechtzeitig für Ersatz sorgen können, wenn wir merken, dass einer von ihnen bald aufwacht. Und wenn du als Wandernde etwas Wichtiges zu erledigen hast, dann versuch es mal mit einer von Christabels speziellen Schlaftabletten.«
    Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ es dann aber doch. Das alles hier war einfach zu verrückt. Verrückt und kompliziert und seltsam. Ich schloss die Augen und versuchte, nicht weiter über diese Stadt und ihre seltsamen Gesetze nachzudenken.
    Zum Glück dauerte unsere Fahrt nicht mehr allzu lange, sodass meine sinnlose Grübelei schon bald ein jähes Ende fand. Erleichtert erhob ich mich, kaum dass wir den richtigen Sturmdorn erreicht hatten, und folgte Marian nach draußen und hinab in das Gewirr der Gassen, wo ich beinahe über die Mutter mit dem Säugling gestolpert wäre, die plötzlich auf der Straße auftauchte, die wir vorhin noch überflogen hatten. Ich erschreckte mich fast zu Tode, doch Marian zuckte nur mit den Achseln und zog mich weiter, bis wir den weitläufigen Platz erreichten, von dem aus ich in der letzten Nacht in die Stadt hinaus geflohen war.
    »Da wären wir«, sagte er kurz darauf und sah mich erwartungsvoll an. »Na, erkennst du es?«
    Wir standen vor einem imposanten Gebäude, das mir tatsächlich bekannt vorkam. Ich überlegte. Es handelte sich eindeutig um eine Kirche, so viel stand fest. Das Portal war riesig und wirkte noch größer, weil ein meterbreiter steinerner Bogen aus Verzierungen es überwölbte. Links und rechts davon ragten eckige Türme in den Himmel. Ich kannte diese Kirche, da bestand kein Zweifel. Doch woher? Während ich nachdachte,

Weitere Kostenlose Bücher