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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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In die Windungen des Gesteins war eine Treppe eingelassen, die zu einer Plattform hinaufführte. Männer, Frauen und Kinder in altmodischer Kleidung stiegen hinauf und hinab, während zwei gigantische Zeppeline ihre Kreise um die Spitze des Turmes zogen. Ihre silbrigen Hüllen glommen im Licht der Gaslaternen und herumschwirrenden Heliometer, das dumpfe Dröhnen der Motoren hallte von den Häuserwänden wider. Gerade tauchte ein dritter Zeppelin am Himmel auf. Er war kleiner und windschnittiger als die anderen beiden, besaß eine schwarz lackierte Außenhaut und fegte mit einer solchen Geschwindigkeit über den Platz hinweg, dass der Muschelturm erzitterte.
    Ich staunte.
    »Die Luftschiffe sind so was wie unsere U-Bahnen, sie halten an Sturmdornen wie diesem, überall in der Stadt. Damit sind wir im Handumdrehen am Ziel«, sagte Marian, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich dem Haltestellenturm zu nähern. Stattdessen zog er mich in den Schatten eines viktorianischen Stadthauses, vor dem sich ein Mann mit einem Leierkasten postiert hatte und ein Lied über eine in einem Turm gefangene Fürstentochter zum Besten gab.
    Marian legte den Kopf in den Nacken. »Siehst du die beiden Seile dort?« Er deutete auf das Heck des Zeppelins, dessen Ruder sich etwa dreißig Meter über unseren Köpfen befand. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte tatsächlich zwei Seile, die dort herabbaumelten.
    »Das sind unsere Plätze«, verkündete Marian und sprang.
    Einfach so.
    Aus dem Stand.
    Soweit ich es erkennen konnte, ging er nicht einmal in die Hocke, um Schwung zu holen. Dennoch schnellte er im nächsten Augenblick mehrere Meter in die Höhe, ganz so, als habe er sich von einem Trampolin abgestoßen. Von einem großen Trampolin. Ungläubig sah ich, wie er auf dem Sims eines Fensters zwischenlandete, um sich sogleich weiter an der Fassade des Hauses emporzuschwingen und kurz darauf mit einem Hechtsprung das hintere der beiden Seile zu erreichen. Mit einem Winken bedeutete er mir, es ihm gleichzutun.
    Sieben schwebte ein Stück in die Höhe, doch ich rührte mich natürlich nicht von der Stelle, ich dachte gar nicht daran. Auf keinen Fall würde ich wie ein Flummi herumspringen, ob es nun möglich war oder nicht. Allein der Gedanke, was passieren würde, wenn ich das Seil verfehlte! Marian winkte noch immer. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, betrachtete aufmerksam das Muster des Kopfsteinpflasters.
    »Flora!«, rief Marian, als er eine Minute später wieder neben mir landete. Sein Haar war zerzaust, die Wangen wirkten dunkler, gerötet, nur dass sie eben nicht rot, sondern grau waren. »Es ist wirklich ganz einfach, komm schon.« Er streckte mir die Hand entgegen, als wolle er mir helfen. Doch ich nahm sie nicht.
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Hast du mal geguckt, wie hoch das ist? Das ist Wahnsinn. Bist du lebensmüde?«
    Marian winkte ab. »Quatsch, ich hab’s dir doch gesagt: Die Schwerkraft ist hier ganz anders. Es macht Spaß.«
    »Ach, und warum steigen alle anderen ganz normal die Treppe hinauf und benutzen die Passagiergondel?«
    »Na ja, ein bisschen gefährlich ist es schon«, gab Marian zu. »Aber das ist doch egal. Vertrau mir einfach, du kannst es. Früher, als Schlafende, warst du nie so ein Angsthase.«
    »Meine Seele hat sich freiwillig an so ein Seil geklammert?«
    Marian zuckte mit den Achseln. »Ehrlich gesagt hast du diese Art des Reisens erfunden. Dafür bin ich dir übrigens immer noch dankbar.« Er sah mich erwartungsvoll an. »Also, was sagst du?«
    »Blödsinn«, entfuhr es mir. »Ich bin ja nicht mal schwindelfrei. Niemals hüpfe ich da hinauf. Es ist gefährlich und dumm und albern.«
    »Aber –«
    Zehn Minuten später teilten wir uns eine der gusseisernen Bänke, die sich zu beiden Seiten eines schmalen Mittelgangs in der Passagiergondel drängten. Nach meinem langen Marsch durch das Industriegebiet tat es gut zu sitzen und auch Marians enttäuschtes Schweigen war mir nicht unwillkommen.
    Leider dauerte es nicht allzu lange an. Kaum hatte er bemerkt, dass mein Blick aus dem Fenster und über die Dächer der Stadt schweifte, da setzte er auch schon zu einer weiteren Erklärung an: »Eisenheim besteht aus fünfeinhalb Stadtteilen. Da hinten, dort wo die Schornsteine in den Himmel ragen, das ist Schlotbaron, das Industriegebiet mit der angrenzenden Arbeiterkolonie im Krawoster Grund und den im Qualm verborgenen Horsten der Schattenpferde. Auf der anderen Seite des Flusses liegen

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