Stadt aus Trug und Schatten
grauen Welt.
»Da bist du ja«, unterbrach er seine Unterhaltung mit einer knochigen Frau, die daraufhin auffallend hastig in einem der Häuser verschwand. »Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.«
Noch immer hing mein Blick an den im Unrat spielenden Kindern. Fast alle von ihnen liefen barfuß herum, trotz der Kälte und des Schmutzes.
»Sie sind arm«, sagte Marian, der anscheinend ahnte, was in mir vorging, und zog mich mit sich. »Aber es stört sie nicht, glaub mir. Komm, wir müssen uns beeilen. Alle warten schon auf uns.«
»Es stört sie nicht?« Ich stolperte neben ihm her, während ich mich über die Schulter immer wieder umsah. Gerade krabbelte ein Kleinkind zu nah an den Graben heran und fiel kopfüber hinein. Lachend fischten die Älteren es wieder heraus.
»Sie sind Schlafende, okay? Alle Arbeiter sind Schlafende, sie erinnern sich nicht. In den Bergwerken zu ackern und hier zu leben, macht ihnen nichts aus, denn sie bemerken es ja nicht einmal.« Er beschleunigte seine Schritte, sodass ich Mühe hatte mitzuhalten. »Natürlich heißt das noch lange nicht, dass es deswegen in Ordnung ist. Niemand sollte ausgebeutet werden, selbst dann nicht, wenn er nichts davon mitbekommt«, sagte er. »Aber leider denken nicht alle Wandernden so. Der Großmeister, ein paar andere … Seit Jahren kämpfen wir für eine bessere Behandlung der Schlafenden, doch der Weg ist noch weit.«
»Verstehe«, murmelte ich, obwohl das ganz und gar nicht der Fall war.
»Nein, tust du nicht«, seufzte auch Marian und ging wieder ein wenig langsamer. Seine Muskeln zuckten, als koste es ihn Kraft, nicht einfach loszulaufen. Wir mussten wirklich spät dran sein. Doch ich war einfach nicht in der Lage, schneller zu gehen. Meine Füße fühlten sich an wie Bleiklumpen und meine Gedanken kamen kaum nach, alles, was ich sah, zu erfassen.
»Tut mir leid, ich vergesse immer wieder, wie wenig du bisher weißt«, sagte Marian schließlich. »Eigentlich soll ich dich ja nur zu unserem Großmeister bringen, damit er dir alles erklären kann. Aber ich glaube, das Grundsätzliche kann nicht länger warten. Also pass auf: Alles, was du hier siehst, die ganze Schattenwelt, besteht aus einem Stoff, den wir Dunkle Materie nennen. Vielleicht hast du schon einmal davon gehört, Dunkle Materie, daraus sind auch schwarze Löcher gemacht. Am einfachsten ist es, wenn du dir vorstellst, dass Eisenheim hier auch so etwas wie ein schwarzes Loch ist, das wir alle tief in unserem Bewusstsein tragen. Ein Ort, der außerhalb der realen Welt liegt. Ein schwarzes Loch eben.«
»Okay«, sagte ich langsam.
»Die Dunkle Materie ist natürlich etwas anderes als die Materie, aus der die reale Welt gemacht ist. Und deshalb hat sie auch andere Eigenschaften. Zum Beispiel ist sie farblos, es gibt nur Graustufen. Überhaupt ist alles ein bisschen anders. Obwohl wir aus allen Teilen der Welt stammen und die unterschiedlichsten Sprachen sprechen, können wir einander innerhalb Eisenheims verstehen. Und die Naturgesetze sind anders, flexibler.«
Ich dachte an das fliegende Auto, während Marian irgendwas von Galileo Galileis Apfel sagte, der in der Schattenwelt nicht einfach zu Boden plumpsen, sondern vorher eine kleine Spirale drehen würde. In Physik war ich noch nie besonders gut gewesen, vor allem, weil ich mich überhaupt nicht dafür interessierte.
»Ja, gut«, unterbrach ich Marians Wortschwall. »Weißt du, die Naturgesetze hier unten sind gerade nicht mein größtes Problem. Ich meine, alle Seelen wandern hierhin, aber manche, also die Schlafenden, müssen für die anderen arbeiten?«
»Na ja, die Stadt lebt von der Dunklen Materie, aus ihr wird alles gemacht, aus ihr gewinnen wir auch unsere Energie, die wir übrigens Dunkle Energie nennen, welche der kosmologischen Konstante entspricht und dafür sorgt, dass wir Licht und Strom und Wärme haben und die Manufakturen –«
»Die Schlafenden«, beharrte ich.
»Die Schlafenden bauen die Dunkle Materie unterirdisch ab und erledigen auch alle anderen Arbeiten für uns. Wir brauchen die Dunkle Materie, deshalb sind wir auf die Schlafenden angewiesen und sie kennen es ja auch nicht anders«, erklärte er und seufzte. »Manche Dinge sind, wie sie sind, und Eisenheim ist kein friedlicher Ort, an dem man sie ändern könnte.«
Wir hatten die Arbeiterkolonie mittlerweile hinter uns gelassen und steuerten nun auf das metallene Gerüst einer Brücke zu, die sich über einen Fluss wölbte. Die
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