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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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hatte ich plötzlich das Bild einer Zeichentrickziege mit Ohrring vor Augen … und eine schwarzhaarige Frau … und einen Wasserspeier mit Flügelchen. Na klar! Diese Kirche kam in einem Disney-Film vor.
    »Das ist doch …«, begann ich.
    »Es ist Notre-Dame«, beendete Marian meinen Satz mit einem Funkeln in den Augen. »Das heißt, es ist natürlich nicht die echte Notre-Dame in Paris, sondern ihre Schattenversion. Vielleicht hast du es noch nicht bemerkt, aber im Grunde ist Eisenheim ein zusammengewürfeltes Spiegelbild aller großen Metropolen.«
    »Doch, ich habe auch schon den Eiffelturm und den Kreml gesehen«, sagte ich.
    »Na, dann weißt du ja, was ich meine.«
    »Aber was wollen wir hier?«
    Statt zu antworten, klopfte Marian an das Portal, woraufhin von drinnen ein kratzendes Geräusch zu hören war, als würde ein Riegel weggeschoben. Ich runzelte die Stirn. Waren Gotteshäuser nicht üblicherweise offen? Ich wollte Marian danach fragen, aber ich vergaß es, als ich in der nächsten Sekunde das Innere der Kathedrale betrat. Nur verschwommen registrierte ich das Spitzenhäubchen des Dienstmädchens, das uns anscheinend geöffnet hatte und auf Marians Anweisung hin davoneilte. Zu stark nahm mich der Anblick der gewaltigen Eingangshalle gefangen. Denn sosehr das Bauwerk von außen auch an eine Kirche erinnerte, so wenig tat es sein Inneres.
    Noch niemals hatte ich so viele Spiegel gesehen. Der Fußboden, die Wände, das Deckengewölbe, ja sogar das Geländer und die Stufen der monströsen Freitreppe an der gegenüberliegenden Seite des Raumes – alles war aus Glas. Tausendfach reflektierte es das Licht des Lüsters unter der Decke zusammen mit Marians und meinem Spiegelbild. Aus allen Winkeln starrte mir ein Mosaik meines Gesichts entgegen, sodass ich Mühe hatte, die Türen und Flure auszumachen, die sich von hier aus in die Tiefen des Baus zu fressen schienen. Ich versuchte mich zu orientieren in all dem Licht, das mich nach dem Weg durch die Dunkelheit der Stadt blendete. Die Luft um mich herum flirrte, als bestünde sie aus flüssigem Silber.
    »Sei uns willkommen, Wandernde, sei willkommen in den geweihten Hallen des Bundes der Grauen«, sagte eine Stimme, die wie das Rascheln von Papier klang. Es war kaum mehr als ein Flüstern, doch es hallte von den Wänden wider, umtoste mich. Da bemerkte ich die Gestalt des alten Mannes aus dem Labor. Fluvius Grindeaut, so hatte er sich gestern vorgestellt, meinte ich mich zu erinnern. Mit ausgebreiteten Armen stand er am Fuß der Treppe und sah mich an. War er schon die ganze Zeit dort gewesen? Oder hatte ich nur nicht bemerkt, wie er hereingekommen war? »Willkommen«, sagte er noch einmal, dieses Mal wärmer, weniger feierlich.
    »Hallo«, murmelte ich, während Sieben sein Licht respektvoll dimmte und Marian neben mir eine Verbeugung andeutete.
    »Guten Abend, Großmeister«, sagte er.
    »Danke, Marian, ich brauche dich vorerst nicht mehr«, erklärte Fluvius Grindeaut und bedeutete mir, ihm zu folgen.
    »Bis später«, sagte Marian so leise, dass nur ich es hören konnte, und verschwand im Gewirr der Spiegel. Auch Sieben zischte davon, anscheinend begleitete der Kleine mich nur draußen auf Schritt und Tritt.
    Der alte Mann führte mich die Treppe hinauf, durch einen Flur, in dem die Verspiegelung glücklicherweise normalen Wänden Platz machte, und ein weiteres Stockwerk nach oben, bis wir einen quadratischen Raum erreichten, der vermutlich in einem der Türme lag. In der Mitte des Zimmers stand ein wuchtiger Schreibtisch, die Wände waren mit einer geblümten Tapete bedeckt und im Kamin prasselten milchweiße Flammen.
    »Setz dich.« Fluvius Grindeaut bot mir einen der Sessel vor dem Feuer an und ließ sich selbst in dem anderen nieder. Eine Weile betrachtete er mich, ohne eine Regung zu zeigen, das verwitterte Gesicht glich einem Stein, die Falten um seine Augen wirkten wie mit einem spitzen Bleistift in die Haut getrieben. Das Knistern der Flammen neben mir erschien mir ohrenbetäubend und ich fragte mich, ob es richtig gewesen war hierherzukommen. Was immer dieser Bund der Grauen sein mochte, er schien mächtig zu sein, immerhin war Notre-Dame sein Hauptquartier, ein Gebäude, das bestimmt auch in dieser Welt kein unbedeutendes war, oder?
    Nervös rutschte ich auf der samtenen Kante meines Sessels hin und her, wartete und hielt es dann doch nicht mehr aus. Schweigen war nun mal nicht meine Stärke.
    »Okay«, begann ich. »Wir sollten einige Dinge

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