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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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wird einige Zeit dauern, bis sie zurückkehren, das ist ganz natürlich, aber früher oder später wird es so weit sein. Und dann sagst du mir, wo sich der Stein befindet, damit ich ihn zerstören kann, und alles wird gut, in Ordnung?«
    »Ja«, sagte ich. »Das heißt, ich weiß nicht … ich meine … warum ist dieser Weiße Löwe denn so gefährlich?«, setzte ich stammelnd hinterher, denn ehrlich gesagt hatte ich nicht den blassesten Schimmer, ob das Ganze für mich so »in Ordnung« ging. Und außerdem beschlich mich allmählich das blöde Gefühl, die Schattenwelt immer weniger zu verstehen, je mehr Erklärungen ich bekam.
    Fluvius Grindeaut schien derselben Ansicht zu sein, denn auf meine weiteren Fragen hin schüttelte er den Kopf.
    »Genug für heute«, sagte er, erhob sich aus seinem Sessel und trat ans Fenster. »Es war ein langer Tag. Katharina bringt dich auf dein Zimmer. Das heißt, eines noch: Nur eine Handvoll Menschen in diesem Gemäuer weiß von der ganzen Sache. Dass du eine Wandernde geworden bist, habe ich meinen Leuten erklärt. Die Geschichte mit dem Weißen Löwen hingegen muss geheim bleiben. Wir haben gegen den Willen des Fürsten, dem wir dienen, gehandelt, Flora. Zum Besten dieser Welt zwar, aber doch war es Unrecht. Der Fürst und sein Kanzler lassen bereits nach dem Verbrecher suchen und natürlich wollen wir nicht, dass sie ihn auch finden. Was ich sagen will, ist: Sprich nicht über den Weißen Löwen. Du und mit dir auch wir anderen schweben in großer Gefahr.«
    »Aber –«, versuchte ich es noch einmal, jedoch ohne Erfolg. Für den Großmeister war das Gespräch beendet.
    »Wir warten darauf, dass dein Gedächtnis zurückkehrt, Flora. Und so lange möchte ich kein Wort mehr über diese Sache verlieren«, beschied er mich und leerte sein Glas in einem einzigen Zug.

6
EIN FREMDES LEBEN
    Katharina war ein dunkelhaariges Mädchen in meinem Alter, dem ein Muttermal über dem rechten Mundwinkel etwas Hochnäsiges verlieh. Vom ersten Augenblick an hasste sie mich. Ich erkannte es an dem Blick, mit dem sie mich musterte, als ich auf den Flur vor Fluvius Grindeauts Büro trat. Von oben nach unten, unverhohlen, geringschätzig. Ein Blick, der so voller Verachtung war, dass ich zurückzuckte und mich fragte, was meine Seele getan haben mochte, um diese Kälte zu verdienen.
    Wortlos machte Katharina auf dem Absatz kehrt und lief los, die Treppe hinab, durch eine Tür, über einen Flur. Erhobenen Hauptes marschierte sie vor mir her, beinahe hätte ich rennen müssen, um mit ihr Schritt zu halten. Und als sich der Gang plötzlich an einer Seite zu einer Galerie öffnete, von der aus man in einen Saal hinuntersehen konnte, hätte ich sie tatsächlich fast verloren.
    »Warte mal«, bat ich und beugte mich über das Geländer, um das, was unter mir geschah, besser betrachten zu können.
    Natürlich tat sie es nicht. »Trödel nicht so«, war alles, was sie mir über die Schulter zuwarf. Ihre Stimme war hoch und schneidend.
    Doch ich vermochte nicht, mich loszureißen. All diese Leute dort unten – es mussten etwa dreißig sein, so genau konnte ich es nicht erkennen, denn sie bewegten sich zu schnell – trugen die gleiche Kleidung wie Katharina und ich, dunkle Hosen und Hemden, dazu Lederstiefel. Männer und Frauen jeden Alters. Wirbelnd bewegten sie sich durch den Raum, immer zu zweit, in den Händen lange Stöcke, die mit klackernden Geräuschen aufeinandertrafen, wieder und wieder. Sie kämpften miteinander. Und wie sie kämpften! Ihre Bewegungen waren ein Gleiten, die Stöcke schienen natürliche Verlängerungen ihrer Gliedmaßen zu sein. Mitten unter ihnen erkannte ich Marian, der gerade in einem Salto über seinen Gegner hinwegsetzte und ihm dabei die Waffe aus der Hand schlug. Es sah so mühelos aus, kaum anstrengender als ein Wimpernschlag. Und dort in der Ecke, die ältliche Frau, die Hiebe austeilte, als wären es Bonbons, war das nicht Christabel? Ja! Ich kannte diese Dauerwelle.
    »Das ist doch nur das Dämmerungstraining«, riss mich Katharina aus meiner Faszination.
    »Dämmerungstraining. Was bedeutet das? Wofür trainieren sie da unten?« Mir fiel auf, dass Marians Bewegungen schneller und eleganter waren als die der anderen, die zudem deutlich Abstand zu ihm hielten.
    Katharina seufzte. »Jetzt komm endlich. Du tust ja gerade so, als wärst du zum ersten Mal hier.«
    »Na ja«, sagte ich und setzte mich wieder in Bewegung. »Im Grunde ist es ja auch so. Ich erinnere mich an

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