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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Häuser am gegenüberliegenden Ufer machten schon von Weitem einen deutlich geräumigeren und luxuriöseren Eindruck.
    »Heißt das, alle Schlafenden arbeiten für die Wandernden?« Ich versuchte mir vorzustellen, wie viele Menschen das sein mochten. Wenn die Seelen der gesamten Weltbevölkerung Nacht für Nacht hierherkamen (und es gab nur einige Tausend Wandernde, wie Marian mir am Nachmittag erklärt hatte), dann musste es eine unvorstellbar große Gruppe sein, mehrere Milliarden. Sicher viele Leute, die ich kannte. Vielleicht auch mein Vater? Und Wiebke? Linus? Ein Gefühl, als wäre mein Gehirn ein nasser Tafelschwamm, der in meinem Kopf herumrutschte, ließ mich schwanken.
    »Vermutlich alle, genau wissen wir es nicht, es tauchen immer wieder mal welche von ihnen ganz woanders auf. So wie du zum Beispiel.«
    »Ich?« Wir waren auf dem höchsten Punkt des Brückenbogens stehen geblieben. Die Adern auf Marians Händen traten hervor, so fest umfasste er das Geländer, als er weitersprach.
    »Ach, Flora, das ist alles furchtbar kompliziert. Wie ich schon sagte: Deine Seele lebt seit Jahren in der Schattenwelt, nur eben als Schlafende. Seit einigen Monaten hat deine Seele bei uns im Hauptquartier gewohnt, wir wissen nicht genau, von wo aus Eisenheim du stammst. Anscheinend warst du keine Arbeiterin, bevor du zu uns kamst. Und du und ich …« Er lächelte wehmütig und umklammerte das Brückengeländer noch eine Spur fester, bevor er weitersprach. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Der Großmeister kann dir alles viel besser erklären. Was passiert ist und warum wir deine Entscheidung, eine Wandernde zu werden, akzeptieren mussten.«
    »Meine Entscheidung?« Der Schwamm in meinem Kopf verwandelte sich in einen Felsbrocken, der drohte, mich zu Boden zu reißen.
    »Alles zu seiner Zeit«, sagte Marian und grinste plötzlich. »Denk nicht weiter darüber nach, du wirst diese Welt schon noch früh genug verstehen. Ach, das hier gehört übrigens dir.«
    Er öffnete seine Jacke und im selben Moment schwebte eine der ballgroßen Kugeln daraus hervor, die ich bereits auf der Rue Monsieur le Coq hatte herumfliegen sehen. Auch diese Kugel leuchtete von innen heraus und glitt wie von selbst zu mir herüber. Eine Handbreit vor meinem Gesicht blieb sie stehen und hüllte mich in einen sanften Schimmer. Ich erkannte, dass sich die Oberfläche der Kugel bewegte, als bestünde sie aus Flüssigkeit. Unwillkürlich streckte ich die Hand danach aus, um sie zu berühren.
    »Nicht«, rief Marian erschrocken. Ich hielt in meiner Bewegung inne. »Das ist ein Heliometer. Unter der Magmakruste herrschen über tausend Grad.«
    »Ein Heliometer?«, fragte ich, den Blick noch immer fest auf die Kugel gerichtet, von der nicht die geringste Hitze ausging.
    »Viele Wandernde haben eins«, erläuterte Marian. »Die Dinger sind nämlich ganz praktisch. Ich selber mag die Kleinen ja nicht so sehr und komme auch ganz gut ohne zurecht. Aber wie dir vielleicht schon aufgefallen ist, liegt über Eisenheim ewige Nacht. Ein Heliometer ist so etwas wie eine persönliche kleine Sonne, die dir überallhin folgt. Und wenn du genau hinsiehst, wirst du erkennen, dass ihr Licht einen Hauch wärmer ist, als es in einer farblosen Welt der Fall sein dürfte. Im Schimmer der Heliometer sehen wir also etwas weniger wie lebendige Leichen aus.« Er grinste schon wieder. »Dein Exemplar hört übrigens auf den Namen Sieben, die letzte Ziffer seiner Seriennummer.«
    »Äh, hallo, Sieben«, sagte ich zu der Kugel vor meinem Gesicht und kam mir dabei ziemlich dämlich vor. Das Licht des Heliometers glomm eine Sekunde lang zu einem Gleißen auf, dann schwebte es ein Stück weiter nach oben und blieb irgendwo über meinem Kopf in der Luft hängen. »Ist es ein … ich meine, lebt es?« ,flüsterte ich.
    Marian schüttelte den Kopf. »Nein, aber es reagiert auf deine Befehle, wird zum Beispiel heller oder dunkler, wenn du es möchtest, oder wartet auf dich, wenn du mal … allein sein möchtest.« Er zwinkerte mir zu. »So. Und jetzt begeben wir beide uns erst mal in luftige Höhen. Dann weißt du auch, wie ich das mit der Schwerkraft vorhin meinte.«
    Wie Marian »das mit der Schwerkraft« gemeint hatte, sollte ich tatsächlich schon kurz darauf erfahren. Und es behagte mir gar nicht.
    Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, führte Marian mich auf einen belebten Platz, in dessen Mitte ein Turm in die Höhe ragte, der der Form nach an eine riesige Muschel erinnerte.

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