Stadt aus Trug und Schatten
klären: Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Warum haben Sie mich zu einer Wandernden gemacht? Wie haben Sie das gemacht? Und weshalb zum Kuckuck war das alles meine eigene Entscheidung?«, sprudelte es aus mir hervor.
Fluvius Grindeaut antwortete nicht gleich. Stattdessen griff er nach einer mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllten Karaffe, die auf einem Tischchen neben ihm stand, und goss sich etwas davon in ein Glas.
»Es geht doch nichts über einen guten Tropfen«, sagte er wie zu sich selbst, dann räusperte er sich und schenkte mir ein knittriges Lächeln. »Wie ich sehe, hat der junge Marian seinen Mund doch nicht halten können, obwohl ich es ihm ausdrücklich aufgetragen hatte.« Er seufzte und stützte den Kopf in die Hände. »Nun gut, ich will versuchen, deine Fragen zu beantworten, soweit es mir möglich ist. Zumindest bei der ersten ist dies der Fall: Ich bin Fluvius Grindeaut, Großmeister des Grauen Bundes, eines Ordens, in dessen Hauptquartier wir uns befinden. Wir sind Kämpfer, die besten Kämpfer der Schattenwelt. Unsere Leben haben wir dem Schutz des Schattenfürsten geweiht.«
»Aha«, sagte ich.
Er genehmigte sich noch einen Schluck. »Was ich von dir will, ist schon komplizierter zu beantworten. Lass es mich so sagen: Im Palast geht etwas vor sich, das ich und ein Teil des Bundes nicht hinnehmen können, etwas Dunkles ist dort am Werk. Jemand war im Begriff, unsere Welt in Gefahr zu bringen, und –«
»Entweder Sie hören auf, in Rätseln zu sprechen, oder Sie lassen das mit dem Erklären gleich bleiben. Ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie da reden. Um welchen Palast geht es? Was heißt ›etwas Dunkles‹?«, schnaubte ich und erschrak, als ich die Miene des Großmeisters bemerkte. Anscheinend war er es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Überhaupt machte er den Eindruck, nicht oft so respektlos behandelt zu werden, wie ich es gerade getan hatte.
Als er fortfuhr, war seine Stimme nicht länger raschelnd, sondern kühl wie Eis, sein Lächeln fortgewischt, als habe es niemals existiert.
»Vor etwa acht Monaten stand die Seele eines Mädchens vor unserer Tür. Wir wussten nicht, wo sie herkam, was sie zuvor erlebt hatte. Doch wir nahmen sie bei uns auf, obwohl sie eine Schlafende war. Denn sie war ungewöhnlich willensstark und entschlossen, uns zu helfen. Ja, sie kannte Details unserer Sache, die wir selbst gerade erst herausgefunden hatten«, erklärte er. »Wir bildeten sie aus zu einer von uns, lehrten sie zu kämpfen. Und als es so weit war, als wir in den Palast eindrangen und den Weißen Löwen stahlen, da half sie uns. Nein, vielmehr war sie es, die ihn an sich nahm und an einen geheimen Ort brachte. Wir haben diesem Mädchen viel zu verdanken und deswegen will ich über die Frechheit seines realen Ichs noch einmal hinwegsehen.«
Ich schluckte. »Ich habe etwas gestohlen?«, stammelte ich. »Einen Löwen?«
»Der Weiße Löwe ist ein Stein. Der wertvollste in der Schatzkammer des Fürsten, denn er besitzt … Kräfte.« Die Augen des alten Mannes blitzten bei diesen Worten, ganz kurz nur. »Doch er ist gefährlich. Er muss zerstört werden, deshalb hast du ihn für uns gestohlen und versteckt.«
Meine Gedanken schwirrten, als wäre mein Kopf ein Korb voller Bienen. »Was meine Seele auch getan hat und warum auch immer Ihr Orden den Fürsten beklaut, obwohl es, wie Sie sagen, seine Aufgabe ist, ihn zu beschützen …«, sagte ich langsam. »Ich verstehe nicht, was all das mit mir zu tun hat. Warum haben Sie mir das angetan? Warum bin ich hier?«
Der alte Mann faltete die knochigen Finger ineinander und stützte sein Kinn darauf. »Nur du weißt, wo sich der Weiße Löwe befindet, und auch im Palast hat man das leider herausgefunden. Glaub mir, sie werden dort nicht eher ruhen, bis sie dich gestellt haben, ob nun in dieser oder in der realen Welt. Deine Seele wollte nicht, dass du ihnen vollkommen wehrlos gegenübertrittst. Ich hätte dich nicht aufgeweckt, ich hielt es nicht für notwendig. Doch deine Seele hat darauf bestanden, sie ist selbst in mein Labor eingedrungen und hat von der Dunklen Energie getrunken. Es ging alles so schnell, gleich nach dem Diebstahl hast du es getan, Flora. Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu Ende zu bringen.«
»Aber ich weiß nicht, wo dieser Stein sein soll.«
Jetzt lächelte er wieder. »Natürlich nicht. Flora, mit deiner Wandlung zur Wandernden hast du all deine Erinnerungen an dein Leben als Schlafende verloren. Es
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