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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Und das Tor aus Eisenstäben war an einer Seite aus den Angeln gebrochen, sodass es einen Spaltbreit offen stand. Weit genug für jemanden wie mich, um hindurchzuschlüpfen.
    Langsam tastete ich mich vorwärts, denn es war mit einem Mal bedeutend dunkler geworden. Nur sehr vereinzelt brannte hier und dort eine Gaslaterne, die ihren flackernden Schein auf umgestürzte Zäune und verfallene Ruinen warf, deren Giebel mich an asiatische Teehäuser erinnerten. Auf Steintafeln links und rechts des Weges prangten tatsächlich chinesische Schriftzeichen, deren Sinn sich mir jedoch wundersamerweise erschloss, kaum dass mein Blick darüberstrich. Das musste mit dem Sprachzauber der Dunklen Materie zusammenhängen, denn in Eisenheim verstand schließlich jeder jeden, egal, woher er stammte. Die Tafeln sahen aus wie die Beschriftung im Duisburger Zoo, Tiernamen waren darauf zu lesen sowie eine kurze Information über Herkunft, Lebensraum und Erscheinungsbild in der realen Welt. Daneben gab es eine Zeichnung der jeweiligen Spezies.
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich mich im früheren Privatzoo des Fürsten befand und es sich bei den Mauern und Zäunen zu beiden Seiten des Weges um verfallene Gehege handelte. Die Tiere selbst lebten schon lange nicht mehr hier, einzig die Tafeln mit ihren Namen waren geblieben und ich war darüber ehrlich gesagt ganz froh. Der Feuerdrache (Seelentier der Tiefseequalle) sollte laut seiner Beschreibung immerhin vier Meter messen und sah schon auf der Zeichnung zum Fürchten aus. Und dem dreiköpfigen Mammutschwein (Seelentier der Wildsau) wollte ich auch nicht unbedingt in natura begegnen. Andere Arten, wie der Greif (Seelentier des Seeadlers), der Zentaur (Seelentier des Rinds) oder der Sphinxbarsch (Seelentier des Löwen), hätten mich allerdings durchaus interessiert.
    Der Gedanke, dass auch die Seelen aller Tiere nach Eisenheim wanderten, war mir bisher gar nicht gekommen. Vor allem die Tatsache, dass sich ihre Erscheinung dabei offenbar veränderte, faszinierte mich. Mit einem kleinen Schaudern dachte ich an den Drago und hätte gern gewusst, welches Fabelwesen einem Zwergkaninchen, einer Amsel oder einem Schäferhund innewohnte, doch so weit, mir das gesamte Bestiarium anzusehen, kam ich gar nicht.
    Denn ich machte eine Entdeckung, die mich einige Minuten verharren ließ. Es war eine ziemlich kleine Tafel, die halb von einem Busch verdeckt wurde. Dennoch sprang mir die Zeichnung darauf sofort ins Auge. Sie zeigte eine Spinne mit behaarten Beinen und einem Maul, aus dem lange Säbelzähne ragten. Ich schluckte. Es war die gleiche Spinne, die mein unbekanntes Ich auf dem Brief in meinem Zimmer in Notre-Dame skizziert hatte!
    »Sirene«, stand daneben. »Die Sirene ist das Seelentier der Brückenkreuzspinne. Die Weibchen erreichen eine Größe von bis zu eineinhalb Metern, die Körper der Männchen werden selten länger als einen Meter. Die Sirene besingt jeweils den Sonnenauf- und -Untergang, doch die extreme Tonlage ihrer Stimme ist nicht jedermanns Sache. Sirenen kommen in ganz Europa vor und können bis zu dreihundert Jahre alt werden (sie leben dann in den Körpern mehrerer Brückenkreuzspinnengenerationen) und gelten als zuverlässige Geheimnisträger.«
    Wieder und wieder las ich den Text, als enthielte er eine geheime Botschaft. Fieberhaft überlegte ich, was er bedeutete. Wieso hatte mein Ich eine Sirene gezeichnet? Was wollte es mir damit sagen?
    Noch während ich so dastand und nachdachte, streifte plötzlich ein eisiger Hauch meine Wange. »Guten Abend«, flüsterte jemand direkt neben meinem Ohr.
    Für den Bruchteil einer Sekunde setzte mein Herzschlag aus. Ich wirbelte herum und sah in das Gesicht des Kanzlers. Belustigung schimmerte in seinen Augen, als freue er sich darüber, mich erschreckt zu haben.
    »Hallo«, erwiderte ich unfreundlich. Die Lippen des Kanzlers verzogen sich dennoch zu einem schiefen Lächeln. Er hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug einen einfachen Wollpullover, keine Spur von seinem Löwenkopfsäbel oder dem albernen Dreispitz. Seine makellose Haut schimmerte wie Marmor in der Dunkelheit, sodass er mehr denn je wirkte wie das, was er nicht war: ein Junge.
    »Dass Sie sich ausgerechnet hierher verirren würden, hatte ich nun wirklich nicht erwartet«, sagte er und hob eine Augenbraue. »Noch dazu in diesem Aufzug. Nicht dass es mir nicht gefallen würde. Das Kleid steht Ihnen. Aber für eine Kletterpartie durch den

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