Stadt aus Trug und Schatten
nicht miteinander! Ist mir doch scheißegal, was für ein Problem du hast.«
Marian hob den Blick. »Ja?«, fragte er und sah nun wieder traurig aus.
Einen Herzschlag lang dachte ich über Amazonen, vermummte Meuchelmörder und zornige Waisenkinder nach, versuchte, mir Marian als weißblondes Kind mit winzigen Händen vorzustellen, wie er durch die Wälder rannte, allein auf der Suche nach einem verwunschenen Kriegerinnenvolk. Wie er sich in seinem Baumhaus verkroch. Dann wandte ich mich ab und trat auf die Treppe aus Luft hinaus. Marian brauchte mein Mitleid nicht, er wollte es ja nicht einmal, und so, wie er sich verhielt, verdiente er es ohnehin nicht. Außerdem musste ich zurück zum Unterricht.
Allerdings kam ich nur ein paar Schritte weit, da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. »Warte«, sagte Marian. »Bitte, ich kann es dir nicht erklären, aber –«
Ich ließ ihn seinen Satz nicht beenden. Wenn er wollte, dass ich weiterhin mit ihm redete, dann musste er mir Antworten liefern, entschied ich und versuchte es deshalb mit einer Sache, die ich heute Morgen erfahren hatte: »Mein Vater meint, in den Minen würde etwas vor sich gehen. Irgendetwas mit der Dunklen Materie. Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?«
Marians Hand zuckte zurück, als habe er sich an mir verbrannt. »Wie kommst du darauf, dass ich etwas darüber wissen könnte?«, fragte er eine Spur zu scharf und verfiel gleich darauf ins Stammeln. »Nein … also, dass dort unten etwas … im Gange sein soll, ist mir neu.«
»Das dachte ich mir. Weißt du, wenn ich dir vertrauen soll, dann musst du mir die Wahrheit sagen, aber das schaffst du ja anscheinend nicht«, sagte ich und machte mich nun endgültig auf den Rückweg durch die Luft über dem Schulhof.
»Die Wahrheit …«, hörte ich Marian hinter mir murmeln.
»Schon gut«, stieß ich hervor. »Vergiss es.« Ich ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Und bis es so weit ist, darfst du niemandem trauen. Die Zeilen dieses verdammten Briefes verfolgten mich wie ein Fluch.
»Flora!«, rief Marian mir hinterher, doch ich winkte ab.
»Es klingelt sowieso jeden Augenblick«, erklärte ich mit brüchiger Stimme. »Besser, ich bin in meinem Körper, bevor Frau Wachtel-Meier mich für tot hält. Von einem Chemietest zu Tode gelangweilt. Das wäre doch mal was Neues.«
14
FESTMAHL
Wie Eisenheim selbst war auch der Palast meines Vaters: riesig und dunkel. Von außen sah er aus wie der Buckingham-Palast, von innen hingegen … Ich war auch in der realen Welt noch niemals bei der Queen zum Tee eingeladen gewesen, zugegeben. Aber so stellte ich mir das Innere ihres Domizils nun wirklich nicht vor. Im Gegensatz zu dem funkelnden Ballsaal, in dem ich gestern mit Marian getanzt hatte, wirkte der Rest des Gebäudes nahezu schäbig. Gerade so, als hätte mein Vater lediglich die Empfangsräume für das Fest herrichten lassen.
Ein Schaudern durchlief mich, als ich durch die Flure strich und dabei mit den Füßen Staubwolken aufwirbelte. Mein Vater hatte in dieser Nacht einen Termin in den Fabriken und so hatte ich beschlossen, mich auf eigene Faust ein wenig umzusehen. Wobei es, wie sich herausstellte, nicht besonders viel zu sehen gab, denn die meisten Räume waren verschlossen. In anderen türmten sich mit Laken abgedeckte Möbel und an den Wänden prangten mottenzerfressene Bildteppiche. Es war, als läge der Palast in tiefem Schlaf. Kein Lüftchen regte sich, es roch nach Vergessen und Dunkelheit.
Und nach Nichts.
Mit der Zeit brüchig gewordene Vorhänge verschleierten die Fenster, auf denen der Schmutz Schlieren gebildet hatte, und die Kronleuchter trugen Kleider aus Spinnweben. Das Silber des Bestecks war so blind, als wäre es seit Jahren nicht poliert worden. An manchen Stellen bröckelte der Stuck von der Decke und hinterließ weißliche Krumen auf den Teppichen, während Schimmel in den Ecken am Gemäuer fraß. Ich kam mir vor wie in einem Horrorfilm aus den Zwanzigerjahren und erwartete jeden Augenblick, dass der Geist einer ermordeten Braut mit schwarz geschminkten Lippen und Blutflecken auf dem Hochzeitskleid hinter einem der löchrigen Vorhänge hervorsprang.
Am schlimmsten jedoch war die Stille, die über allem lag wie ein Leichentuch. Es war die Stille eines Grabes.
Denn tatsächlich schien kaum jemand in diesem finsteren Kasten zu leben. Nur in der Bibliothek begegnete ich einem knochigen Butler, der sich mir als John Winter
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