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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Vorhang gesetzt, da durchflutete mich eine Welle aus Bildern und Gedanken. Erinnerungen.
    Von einer Sekunde zur nächsten vergaß ich meine Übelkeit. Wir waren im Arbeitszimmer des Kanzlers, das von einem Schreibtisch mit Löwenpranken anstelle von Beinen beherrscht wurde und zur Hälfte in einem Wintergarten lag. Das Licht der Gaslaternen vor dem Haus schien durch die Glasfront wie Sonnenlicht, der Geruch von Siegelwachs lag in der Luft und ich wusste plötzlich, dass sich das Briefpapier mit dem fürstlichen Kopf in der obersten Schublade des storchenbeinigen Sekretärs in der Ecke befand.
    Denn ich war schon einmal hiergewesen.
    Wann genau, konnte ich nicht sagen. Ebenso wenig, weshalb. Doch es stand fest: Ich kannte dieses Zimmer. Und ich erinnerte mich daran, dass hinter mir, gleich über der Tür, ein Bild hing. Ein Gemälde in einem schlichten Rahmen aus Mahagoni. Ich fuhr herum und sah, wie ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht des Kanzlers huschte.
    »Ah ja«, sagte er. »Dachte ich es mir doch. Darf ich vorstellen: der Weiße Löwe.«
    Mein Blick hing wie festgenagelt an dem Bild über dem Eingang. Viel zu sehen gab es darauf eigentlich nicht, ein Kissen mit Troddeln an den Ecken bildete den Hintergrund, in dessen Mitte er prangte. Er war weder besonders groß, noch strahlte er in übernatürlichem Glanz. Er war einfach da, ungeschliffen, weißlich mit grauen Sprenkeln. Kein Edelstein, eher ein Kiesel. Ich erinnerte mich an seine Schwere in meiner Hand und die poröse Oberfläche.
    Ein einfacher Stein. Und noch dazu war das, was ich betrachtete, lediglich ein Bild. Es war nichts als ein Fleck auf einem Gemälde, es hätte ebenso gut ein zufälliger Farbklecks sein können. Doch das war es nicht. Der Künstler hatte ihn perfekt abgebildet. Jede Maserung stimmte, jede Einkerbung seiner Oberfläche.
    »Der Weiße Löwe«, wiederholte ich tonlos. Er war nur ein Stein und zugleich war er alles. »Er ist …«
    »… wunderschön. Selbst durch Öl und Pinselstriche ist seine Macht noch zu spüren«, flüsterte der Kanzler voller Ehrfurcht. Ich fühlte seinen Atem in meinem Nacken. »Hilf mir, ihn zurückzuholen, Flora, ich flehe dich an«, raunte er so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er die Worte überhaupt gesprochen hatte.
    Es fiel mir schwer, mich aus dem Bann des Steins zu lösen, dennoch tat ich es, um stattdessen den Kanzler ins Visier zu nehmen. Verwundert musterte ich ihn. Der Glanz in seinen Augen sprach Bände.
    »Warum ist Ihnen der Weiße Löwe so wichtig?«, fragte ich.
    Der Blick des Kanzlers hing noch immer an dem Gemälde über der Tür. »Dieser Stein ist meine einzige Chance. Nur durch ihn kann ich bekommen, was ich mir seit Langem wünsche: einen irdischen Körper«, sagte er, die Stimme weich und voller Sehnsucht.
    Ich sah ihn an.
    Er rieb sich die Augen und ließ sie einen Moment geschlossen, als er weitersprach. Seine Wimpern warfen dunkle Schatten. »Es ist dreihundert Jahre her, dass ich zum letzten Mal die Sonne gesehen habe. Vielleicht erscheint Ihnen das banal, doch so ist es nicht. Nichts kann die Sonne ersetzen oder richtiges Essen oder das Leben. Gar nichts. Und wenn ich noch einmal so viele Laternen in meinen Vorgarten stelle, wenn ich ihre Anzahl verzehnfache, diese Welt wird für immer im Dunkel bleiben.«
    »Weiß mein Vater von Ihrem Wunsch?«
    Der Kanzler nickte. »Aber sicher. Er war sogar bereit, mir den Stein für eine Weile zu überlassen. Ich war so kurz davor, mein Ziel zu erreichen. Allerdings ist er in genau diesem Augenblick gestohlen worden.«
    »Ich oder besser gesagt diese andere Flora wollte also verhindern, dass Sie wieder einen Körper bekommen?«, fragte ich langsam und hatte mit einem Mal das Gefühl, jemand hätte eine Schachtel voller Puzzleteile in meinem Gehirn ausgekippt und mir fehlte das entscheidende Stück, um mit dem Zusammensetzen beginnen zu können. Das alles ergab keinen Sinn.
    »Sie haben den falschen Leuten getraut, Flora. Wer weiß, welche Lügen sie Ihrer wehrlosen Seele erzählt haben.« Der Kanzler legte seine Hand auf meine Schulter, warm und federleicht. Tröstlich.
    »Ich … ich weiß nicht, was hier passiert ist und warum ich den Weißen Löwen gestohlen habe.«
    Noch immer ruhte die Rechte des Kanzlers auf meiner Schulter. Ernst sah er mir in die Augen. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Wichtig ist nur, dass wir den Stein wiederbekommen. Sie werden sich erinnern und dann wird alles wieder gut.«
    Ich atmete tief

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