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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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hintersten Winkel des Palastgartens erscheint es mir doch … ungeeignet.«
    Sein Blick streifte meine Schulter. Erst jetzt bemerkte ich den Riss, der sich quer darüber bis zu meinem Schlüsselbein durch das Seidengespinst des Ballkleides zog. Wie um Himmels willen war der nur dahingekommen? Ich straffte den Rücken und schob das Kinn vor.
    »Erstens klettere ich nicht«, erklärte ich so würdevoll wie möglich. »Und zweitens habe ich im Moment nun mal nichts anderes anzuziehen.«
    »Verstehe«, sagte der Kanzler mit einem Schulterzucken. »Dann sollten Sie mir jetzt am besten folgen.«
    Ich zögerte. »Wohin denn?«
    Der Kanzler lächelte hintergründig. »Das werden Sie schon sehen, Prinzessin«, sagte er. »Aber seien Sie versichert, Ihnen wird nichts geschehen. Sie können mir vertrauen.«
    »Ach ja?« Ich hatte diesbezüglich so meine Zweifel. Dennoch machte dieser Mann mich neugierig. Er hatte etwas an sich, was mich in seinen Bann zog. Etwas Unheimliches. Etwas Verbotenes. Einen Moment lang überlegte ich noch, dann nickte ich. »Also gut, gehen wir«, sagte ich und spürte schon einen Wimpernschlag später, wie Gänsehaut meinen Körper überlief, als der Kanzler wie ein Gentleman aus vergangenen Zeiten meine Hand nahm und in die Beuge seines Armes legte.
    Nebeneinander liefen wir durch den Park, schlugen jedoch einen anderen Weg ein als den, auf dem ich gekommen war. Erst nach einiger Zeit begriff ich, dass wir uns auch gar nicht in die Richtung bewegten, in der der Palast lag. Stattdessen führte der Kanzler mich zu einer Villa auf der anderen Seite des Gartens, die einem englischen Herrenhaus aus einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung ähnelte und in einem Wald aus Laternen aller Größen und Formen stand. Wie Pilze wuchsen die Leuchten dicht an dicht aus dem Boden, manche endeten bereits eine Handbreit über der Erde, andere ragten bis über das Dach hinaus. Die Helligkeit, die sie verströmten, kam beinahe schon an Tageslicht heran.
    »Willkommen in meinem bescheidenen Heim«, verkündete der Kanzler und führte mich durch eine Eingangshalle voller Statuen in einen antik möblierten Salon, in dem ich zu meiner Erleichterung nicht eine einzige Staubflocke entdeckte. Die Teppiche waren sauber, im Kamin brannte ein Feuer und auf einem Tischchen stand sogar eine Schale mit Gebäck. So hätte es im Palast aussehen sollen.
    »Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ der Kanzler mich allein, kehrte jedoch schon so kurz darauf zurück, dass ich mich fragte, ob er sich überhaupt weiter als zwei Meter von diesem Zimmer wegbewegt hatte. Über dem Arm trug er ein dunkles Kleid aus einem schlichten Wollstoff, das tatsächlich so aussah, als könnte es mir einigermaßen passen. Er reichte es mir mit einer Verbeugung.
    »Danke«, sagte ich und entfaltete das Kleid, das sich schon in meinen Händen kratzig anfühlte. »Eine Jeans wäre mir ehrlich gesagt lieber. Aber so etwas gibt es hier wahrscheinlich nicht, oder?«
    Er sah mich an, verwirrt und ein wenig beleidigt. »Es tut mir leid, aber ›Jeansen‹ müssen wohl bedauerlicherweise erst nach meinem … Tod erfunden worden sein«, erklärte er steif und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Wie lange mochte es schon her sein, dass sein Körper gestorben war?
    Hastig senkte ich den Blick. »So wichtig ist es auch wieder nicht«, murmelte ich. »Das Kleid sieht auf jeden Fall wärmer und praktischer aus als das, das ich anhabe.«
    »Das ist es in der Tat«, sagte der Kanzler und war schon wieder an der Tür. »Ich werde draußen warten, bis Sie sich umgezogen haben, und würde mich im Übrigen freuen, wenn Sie danach noch zum Mitternachtsmahl blieben.«
    Er zwinkerte mir zu und ich spürte, wie ich nickte und dabei dümmlich vor mich hin lächelte. Meine Güte, warum sprang ich nur dermaßen auf den Charme dieses Typen an? Hatte ich auf dem Weg hierher etwa mein Gehirn verloren? Ich sollte wohl dringend zusehen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
    Zehn Minuten später fand ich mich an einer festlichen Tafel wieder. Der Tisch war mindestens vier Meter lang und es sah so aus, als wäre das Zimmer, in dem er stand, eigens um seine enormen Ausmaße herumgebaut worden. An den Wänden türmten sich gemalte Obstberge, die in ihrer Farblosigkeit jedoch eigentümlich leblos wirkten, auf dem Tisch drängten sich Bratenplatten und Silberschüsseln. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viel Essen auf einem

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