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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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vorstellte, und vor dem Eingangsportal standen zwei Kämpfer des Grauen Bundes, um Wache zu halten. Ansonsten traf ich nicht eine Menschenseele. Langsam arbeitete ich mich durch das Gebäude, dessen Etagen immerhin symmetrisch angelegt waren, und überall bot sich mir ein ähnliches Bild: Staub bedeckte Böden und Möbel, zentimeterdick wie eine Schicht Neuschnee, nur dann und wann entdeckte ich vereinzelte Fußspuren auf den Marmorböden. Doch niemals ihre Verursacher.
    Die Leere hatte etwas Bedrückendes an sich. Ich stellte mir vor, wie mein Vater hier seine Nächte verbrachte, und spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Nacken kroch. Er war der Fürst der Schattenwelt und zugleich allein in der Dunkelheit. Es war, wie er gesagt hatte: Er lebte zwei Leben und doch keines wirklich.
    Ohne dass ich es bemerkte, trugen mich meine Schritte in den zweiten Stock, vorbei an Kerzenleuchtern, in denen kümmerliche Stumpen ihr letztes Licht spendeten, eine Wendeltreppe hinauf. Schließlich stand ich vor einer weißen Tür, von der die Farbe abblätterte wie eine zu eng gewordene Haut. Die Klinke aus Kupfer glänzte, so oft war sie benutzt worden, und noch ehe ich sie herunterdrückte, wusste ich, dass es ein besonderer Raum war, der sich dahinter verbarg. Ein Flüstern schien von ihm auszugehen. Und längst verklungenes Lachen.
    Die Tür knarrte, als ich sie öffnete. Das Zimmer war kreisrund und so weiß, dass ich ein paarmal blinzeln musste, um mich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Dann erkannte ich das Himmelbett in der Mitte des Raumes, dessen Vorhänge, obwohl auch sie von Spinnenweben überzogen waren, noch immer seidig schimmerten, als wären sie aus kostbarer Spitze. Links davon stand ein Schminktisch, eine Bürste lag darauf, gleich neben einem offen gelassenen Lippenstift und einem Hut, auf dem sich vertrocknete Blumen zu einem Hügel türmten. Auf der anderen Seite des Bettes stand eine Wiege aus Korbgeflecht vor einem der Fenster und auf dem Boden lag ein Seidenschal mit dem Bild eines Pfaus.
    Und dann sah ich es: das Foto auf dem Nachttisch. Klein war es und schwarz-weiß. Mein Vater war darauf zu sehen, altmodisch gekleidet und lächelnd stand er da und hielt die Hand einer Frau. Die Hand meiner Mutter. Mama! Seit Jahren hatte ich mir kein Bild mehr von ihr angesehen, weil ich es nicht ertrug. Nie würde ich ihr verzeihen, dass sie fortgegangen war. Wieso nur hatte sie das getan? Ich suchte die Antwort in ihren blitzenden Augen, doch ich fand sie nicht. Mit undurchdringlichem Ausdruck blickte meine Mutter in die Kamera. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, den Kopf hatte sie leicht geneigt, ihre Hände steckten in geknöpften Handschuhen und auf ihrem Schoß saß ein Baby mit dunklem Haar und winzigen Fäusten. Es lachte.
    Ich presste die Kiefer aufeinander. Wie hat sie uns einfach so verlassen können? Wie?, fragte ich mich und machte auf dem Absatz kehrt. Ich wollte das hier nicht sehen. Diese Familie existierte nicht mehr. Entschlossen eilte ich auf den Flur hinaus und warf die Tür hinter mir ins Schloss. Hastig stieg ich die Wendeltreppe hinab. Ich lief durch Korridore und ein verwaistes Musikzimmer, befand mich plötzlich in einem Sitzungssaal mit Stühlen aus geschnitztem Holz und einer gläsernen Dachkuppel und trat schließlich auf eine Terrasse hinaus, von der aus ein Kiesweg in einen verwilderten Garten führte.
    Kühle Nachtluft umflutete mich, ich schloss die Augen und spürte, wie mein Atem ruhiger wurde. Von fern drangen die Geräusche der Stadt an mein Ohr wie das Murmeln eines Ungeheuers und es gelang mir, meine Mutter allmählich wieder aus meinen Gedanken zu verbannen. Die Steine knirschten unter meinen Füßen, als ich weiterging, zwischen Büschen und Bäumen, vorbei an einem vertrockneten Springbrunnen. Mit den Fingerspitzen strich ich über die Blätter von Blüten und Pflanzen, die ich noch nie gesehen hatte. Ihr Duft hüllte mich ein wie ein Schlaflied und eine Weile schritt ich dahin, dachte weder an meine Familie noch an Marian.
    Selbst dass ich mich in der Schattenwelt befand, hatte ich schon beinahe vergessen, als der Weg plötzlich eine Biegung machte, hinter der ein Torbogen auftauchte. Er trug die Aufschrift »Fürstliches Bestiarium« und schien einen separaten Teil des Parks zu markieren. Einen Teil, der noch verwahrloster wirkte als der Rest des Gartens. Längst waren die Buchstaben des Schriftzugs verblasst, man konnte sie nur gerade eben noch entziffern.

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