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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Fleck gesehen zu haben. Zumindest nicht, wenn es für zwei Personen gedacht war.
    Die Auswahl war schlicht atemberaubend, es gab Hühnerbeine und Kartoffelpüree, Steak und Salat, Pasteten und Nudeln mit Soße, Frühlingsrollen, Pizza, Rosenkohl und gefüllte Champignonköpfe – und das waren nur die Gerichte in unmittelbarer Nähe meines Platzes. Immerhin erklärte die Vielfalt der Speisen die Größe des Tisches, dessen Mitte sich beunruhigend unter einer Eisbombe mit Wunderkerzen bog.
    Was ich hingegen weniger verstand, war die Tatsache, dass der Kanzler und ich jeweils am anderen Kopfende der Tafel saßen. Ich konnte ihn von meiner Seite aus hinter all den Gerichten kaum erkennen. Überhaupt fühlte ich mich nicht gerade hungrig, denn auch das Essen war schwarz-weiß und sah dadurch eher unappetitlich aus. Eine Weile stocherte ich in der gräulichen Haut eines Hähnchenstücks herum und überlegte, es einfach zurück auf die Platte zu legen, als der Kanzler, der offenbar eine bessere Sicht hatte als ich, es bemerkte.
    »Schmeckt es Ihnen nicht? Soll ich etwas anderes auftragen lassen?«, rief er über den Tisch hinweg.
    »Nein, nein«, sagte ich rasch. »Es ist nur … ich habe in der Schattenwelt noch nie etwas gegessen. Es kommt mir irgendwie komisch vor.«
    »Ich verstehe.« Der Kanzler wiegte den Kopf hin und her, was ich daran erkannte, dass das Stück Stirn, das ich von ihm sah, mal links und mal rechts neben dem Fasan hervorlugte. »Nun, im Grunde müssen unsere Seelen in Eisenheim auch nichts zu sich nehmen. Unsere Körper sind schließlich nicht hier. Aber ich finde, die Nahrungsaufnahme gehört zum Leben dazu. Essen hat auch mit Kultur zu tun«, erklärte er nach einer kurzen Pause. »Abgesehen davon habe ich es mir im Laufe der Zeit angewöhnt. Sie wissen ja, ich kann nicht mehr auf dem herkömmlichen Wege …«
    »Ach so«, beeilte ich mich zu sagen und schob mir eine Weintraube in den Mund. Sie schmeckte nach nichts. »So übel ist es gar nicht«, versicherte ich und aß aus Höflichkeit gleich noch drei weitere Trauben. Dann versuchte ich es mit dem Hähnchen, das leider sehr wohl einen Eigengeschmack besaß. Einen von der fauligen Sorte.
    »Gut, nicht wahr?« fragte der Kanzler, der meine Miene anscheinend falsch deutete.
    »Mhhm«, machte ich. Irgendwie gelang es mir zu schlucken. Mit etwas Wasser, das – Gott sei Dank – auch wie Wasser schmeckte, spülte ich nach und verlegte mich anschließend wieder auf die Weintrauben, während der Kanzler sich über ein Stück Entenbraten mit Klößen und Soße hermachte.
    Eine Zeit lang war nur das Geklapper von Besteck zu hören und das leise Plopp, mit dem ich die Trauben von ihren Stielen zog. Allmählich wurde mir schlecht von den Dingern, doch ich wagte es nicht mehr, etwas anderes zu probieren. Stattdessen beschloss ich, nur noch in Zeitlupe zu kauen. Irgendwie hatte ich in letzter Zeit ein Händchen dafür, in blöde Situationen zu geraten, mochten es nun wütende Schattenreiter, Fürstenväter oder untote junge Männer sein.
    Ich trank noch einen Schluck Wasser, was meinen Magen dummerweise gar nicht zu freuen schien. So ein Mist. Jetzt war mir wirklich übel. Und mein Kleid kratzte. Und ich hatte definitiv keinen Hunger. Mittlerweile wollte ich nur noch fort von hier.
    Doch gerade als ich darüber nachdachte, wie lange ich wohl noch würde sitzen bleiben müssen, wenn ich meinen Gastgeber nicht beleidigen wollte, hörte ich ein seltsames Geräusch, das nur eines bedeuten konnte: Wir waren nicht allein. Unwillkürlich wanderte mein Blick zur Decke, denn anscheinend war jemand im Stockwerk über uns. Natürlich hätte es ein Dienstbote sein können. Doch die Schritte klangen anders. Sie klangen, als würde jemand mit zwei unterschiedlichen Füßen dort oben herumgehen. Jemand mit einem Holzbein. Oder mit einer Krücke.
    Endlich tupfte der Kanzler sich den Mund mit seiner Serviette ab. »Und nun, Flora«, verkündete er feierlich, »möchte ich Ihnen etwas zeigen.«
    »Also … äh, eigentlich müsste ich jetzt mal langsam aufbrechen«, warf ich ein, aber der Kanzler war schon an der Tür und hielt sie für mich auf.
    »Es dauert nicht lange«, sagte er, winkte mich zu sich und führte mich durch einen langen Flur, an dessen Ende ein Samtvorhang in einem Torbogen hing. Missmutig trottete ich hinter ihm her, überlegte schon, ob ich mich einfach weigern und gehen sollte, als etwas mit mir geschah. Ich hatte kaum einen Fuß in den Raum hinter dem

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