Stadt aus Trug und Schatten
das flatternde Haar hinter die Ohren. »Vielleicht hast du recht. Warum haben andere Wandernde deine Eltern getötet?«
Marians Blick schweifte über die Dächer. Er verlagerte sein Gewicht, sodass sich unsere Knie berührten. »In Finnland erzählt man den Kindern seit jeher Geschichten über die Wälder, wusstest du das?«
»Nein.«
»So ist es aber. Denn der Wald ist Finnlands knorriger Panzer. Er erstreckt sich beinahe endlos über die Ebenen. Fichten und Tannen. Birken. Es gibt Legenden von Kobolden und Trollen, von Riesen und Baumgeistern. Und die Sage vom Volk der Amazonen. Unbesiegbare Kriegerinnen, die Kleider aus Fell und Federn tragen und noch heute tief verborgen im hölzernen Dickicht hausen sollen.« Er sah mich jetzt wieder an. »Als Kind habe ich nach ihnen gesucht, nach den Amazonen mit ihren gefiederten Giftpfeilen. Damit sie für mich den Tod meiner Eltern rächen.«
»Und, hast du sie gefunden?«
»Es ist nichts weiter als eine Legende.« Seine Worte klangen bitter. »Weißt du, damals, an dem Sommertag, an dem sie kamen, da hatte ich mich versteckt. Ich hatte mir im Garten ein Baumhaus gebaut und gesehen, wie sie durch die Luft auf den Schornstein unseres kleinen roten Hauses zuflogen. Ich war damals acht und fürchtete mich vor den Schattengestalten, verkroch mich in den hintersten Winkel meiner selbst gezimmerten Hütte. Von einem Augenblick zum nächsten verlor ich meine Eltern, meine Mutter, meinen Vater. Plötzlich waren sie fort. Dabei hätte ich rufen müssen. Ich hätte meine Eltern warnen können. Vielleicht –«
»Du warst noch ein Kind, Marian«, unterbrach ich ihn, wollte ihm tröstend die Hand auf den Arm legen. Doch er ließ es nicht zu.
»Na und? Du hast mit sieben auch den Haushalt übernommen.« Seine Knöchel traten weiß hervor, so fest ballte er die Fäuste. Der glühende Zorn, den ich schon so oft an ihm wahrgenommen hatte, flackerte über seine Züge. »Ich hatte damals zu viel Angst. Das war der Fehler. Seit damals weiß ich, dass die Angst der Fehler war«, sagte er und es klang wie ein Mantra. »Nie wieder werde ich so ängstlich sein. Schon wenige Wochen später begann ich, den Großmeister anzubetteln, mir das Kämpfen beizubringen, obwohl ich eigentlich noch zu jung dafür war. Seitdem trainiere ich, sooft ich nur kann, auch außerhalb des Dämmerungstrainings. Bis ich eines Tages gut genug bin.«
»Um was zu tun?«, fragte ich. Die Kälte in seiner Stimme hatte mich bei seinen letzten Worten unbewusst ein Stück von ihm abrücken lassen. »Gut genug, um diejenigen, die du liebst, beim nächsten Mal verteidigen zu können? Oder gut genug, um dich zu rächen?«
Marians Blick ließ mich nicht los, doch er schwieg, presste die Kiefer aufeinander, als habe er schon zu viel gesagt. Er ärgerte sich darüber, überhaupt mit mir über seine Vergangenheit gesprochen zu haben, das sah ich ihm an. Einen Augenblick lang meinte ich förmlich zu hören, wie es in seinem Kopf arbeitete, wie er sich dafür verfluchte, etwas über sich preisgegeben zu haben. Dann plötzlich lächelte er wieder, halbherzig und falsch.
»Ach, das … das sind alte Geschichten. Es war damals eben eine schlimme Zeit für mich. Vergiss, was ich gesagt habe«, erklärte er mit einem Schulterzucken und versuchte zu allem Überfluss nun auch noch ein Grinsen. Es misslang.
Meine Hände krallten sich um die Dachkante. Warum tat Marian das? Warum öffnete er sich mir, nur um sich in der nächsten Sekunde wieder in seinem Kriegerpanzer zu verstecken? Traute er mir etwa immer noch nicht?
»Hör mal«, begann ich, brach jedoch sofort wieder ab, weil mich die Erkenntnis traf wie ein Schwall kalten Wassers. Nein, er traute mir tatsächlich nicht. Und ebenso wenig traute ich ihm. Warum auch? Hatte er mir nicht die ganze Zeit über verschwiegen, was er über meinen Vater wusste? Ich schluckte, als mir klar wurde, dass ich hier mit einem Mann saß, den ich im Grunde überhaupt nicht kannte, über den ich so gut wie nichts wusste. »Wer bist du?«, fragte ich. »Was weißt du und was willst du?« Wollte ich dich wirklich noch vor nicht einmal 24 Stunden küssen?
Statt zu antworten, betrachtete Marian die vorüberziehenden Wolken. Der Schattenreiter auf dem Dach der Sporthalle war des Wartens anscheinend überdrüssig geworden, denn er bestieg sein Pferd und schwang sich kurz darauf in die Lüfte, während ich aufsprang und am liebsten dasselbe getan hätte.
»Na gut!«, rief ich. »Dann reden wir eben
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