Stadt der blauen Paläste
Sache«, hatte er kurzerhand entschieden, »also sind wir auch verpflichtet, uns um dich zu kümmern.«
Es war die übliche Geste der Unterwerfung gewesen, die sie damals nach Riccardos Tod ausgeübt hatten. Sie hatten sie nahezu gezwungen, in seine Fußstapfen zu treten: Sie standen vor ihrer Tür, ließen keine Einwände gelten, schleppten sie ab in die Gärten von San Giorgio, jenem Ort, an dem die Buchhändler sich zu ihren geheimen Treffen versammelt hatten, bei denen Riccardo stets dabei gewesen war.
Nicht alle in der Runde waren der Meinung gewesen, dass Crestina für ihre Gruppe eine echte Hilfe war, aber Leonardo hatte ihnen klar gemacht, dass diese Aufgabe das Einzige war, was verhindern konnte, dass Crestina in den Orkus abstürzte.
»Wir brauchen dich«, hatte Leonardo gedrängt, »wir haben mit Riccardo drei Männer durch die Pest verloren, einer unserer Kuriere ist verschollen, und wir wissen nicht, ob er je wieder zu uns zurückkommt. Bei einem anderen hat seine Frau ihn beschworen, diese gefährliche Aufgabe nicht mehr zu übernehmen, solange sie einen Säugling zu Hause hatten.«
Crestina hatte sich zunächst gewehrt.
»Ich bin zwar eine Frau, aber auch mit meinen schwachen Kräften bin ich in der Lage, diesen –«
»Deine schwachen Kräfte reichen gewiss aus, um einen kleinen ledernen Sack auf deinem Pferd zu transportieren«, hatte er sie damals unterbrochen, »und dass du eine Frau bist, ist ein Vorteil.«
»Sie hätten mich neulich bei Nacht auf der Lagune fast geschnappt mit diesen verbotenen Büchern«, hatte sie eingewendet, »und wenn Alvise nicht gewesen wäre, säße ich nun irgendwo hinter Gittern.«
»Du sitzt nicht hinter Gittern, und du wirst es wieder tun, nicht anders, als es Riccardo getan hat«, hatte Leonardo entschieden und ihr ohne weitere Diskussion auch diesmal den ledernen Sack übergeben, den sie nach Padua zu bringen hatte und dort einem Professor übergeben sollte.
»Nicht mal einen Wollballen zur Tarnung diesmal«, hatte sie gemurrt.
»Beim nächsten Mal bekommst du wieder deinen Wollballen«, war Leonardos Antwort gewesen, »diesmal haben wir keinen. Außerdem wissen die Häscher längst von den Wollballen. Und ein Wollballen in einem Sack oder Korb ist schon in der ersten Sekunde höchst verdächtig.«
Der Treffpunkt der Übergabe war stets der gleiche: der botanische Garten in Padua. Die Losung hatten sie geändert, wie bereits zu Riccardos Zeiten. Manchmal hatte sich ihr Bruder lustig gemacht über dieses Getue, wie er es bezeichnete. Er könne inzwischen die Namen des halben botanischen Rosengartens von Padua auswendig und es bereite ihm keinerlei Mühe, ohne Vorbereitung einen Vortrag zu halten über die Geschichte der Rosen: Gallica-Rosen, Damascener Rosen, Alba-Rosen.
Sie hatten Crestina für die heutige Übergabe als Code den Namen einer Rose gegeben, deren Namen nicht eindeutig war wie bei vielen Rosen. Ihre Beschreibung stammte zwar aus einem alten englischen Kräuterbuch, aber Crestina hatte ihr den Namen ›Riccardo‹ gegeben, da sie annahm, es sei die gleiche schwarzrote Rose wie in der Nähe seines Grabs.
Die Bank, auf der die Übergabe stattfinden sollte, stand nicht im Rosengarten. Sie befand sich abseits davon an einem kleinen Teich, der an diesem Tag nicht eben zum langen Verweilen einlud, da seine Wasserfläche mit einer dünnen Eisschicht bedeckt war und die Fische in der Tiefe des Wassers Schutz gesucht hatten. Aber immerhin dürfte sicher sein, dass bei dieser Kälte weniger Leute Interesse haben würden als sonst, die Fische zu bewundern.
Als sie um die Ecke eines dichten Gebüschs bog, wo sie an einer Kastanie immer ihr Pferd anzubinden pflegte, seufzte sie enttäuscht: Die Bank war besetzt. Und ganz gewiss nicht von jemandem, der bereit war, es mit der Inquisition aufzunehmen. Auf ihr hatte ein uralter Mann mit Stock Platz genommen, in einen weiten alten Mantel gehüllt.
Als sie näher kam, entdeckte sie dann allerdings, dass der uralte Mann ganz offensichtlich nicht ganz so uralt war, wie es aus der Ferne schien. Er sah interessiert über den Teich hinweg, ohne sich durch ihr Näherkommen gestört zu fühlen. Sie kam zögernd heran, setzte sich dann ans andere Ende der Bank und legte ihren Ledersack quer über ihren Schoß. Eine Weile geschah nichts. Für einen Fremden mussten sie den Eindruck erwecken, als seien sie zwei Bewunderer eines winterlichen Teichs, auch wenn dieser an solch einem kalten Wintertag nicht viel
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