Stadt der blauen Paläste
auswendig?«
»Ja.«
Er lachte.
»Ihr müsst es natürlich nicht tun. Wir können uns auch gerade so gut durch die Bücher hindurchlesen. Und zwischendrin immer wieder tanzen.«
Sie ging zum Fenster und drehte ihm den Rücken zu.
Die Götter, die uns alle einst gespalten,
Ihr wütend Urteil auch an uns vollbracht,
Ins Weltall stießen sie uns, gaben Nacht,
Damit wir blind und klirrend dort erkalten.
Sie machten halb, was einst für ganz gehalten,
Zerbrachen zornig, was sie selbst erdacht.
Uns blieb die Rache, die wir voll erbracht:
Ein namenloses Heer mit kraftlos grausamen Gestalten.
Die Häuser leer, am Himmel kalte Sonnen.
Die wärmen nicht, wo doch dein Atem fehlt.
Ich friere einsam. Und traure. Ob all der ungelebten Wonnen.
Und seh den Trotz, der deine Stirn erhebt:
Wir weigern uns. Wir werden nie verbrennen.
Wir lachen ihrer. Selbst in Äonen werden wir uns wiederkennen.
Das Gedicht stand im Raum, als sie zum Kamin hinüberblickte.
Sie hatte nie verraten, für wen es einst geschrieben worden war. Und sie war auch nicht bereit, es zu erklären.
Die Maske war inzwischen hinter sie getreten und schrieb etwas auf das Täfelchen. »Euer Schlafgemach ist hinter dem salotto «, stand dort. Sie blickte hoch, die Maske hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und entfernte sich.
Sie blieb einen kurzen Augenblick stehen, wandte sich um und machte sich anschließend auf den Weg zu der Kammer hinter dem salotto .
Als sie ihre Gewänder abgelegt und sich in einer bescheidenen Waschschüssel das Gesicht gereinigt hatte, stieg sie in das Bett, das eher einer etwas komfortableren Pritsche ähnelte, als einem Bett, das in diese Gemächer passte. Sie kroch unter die Decke, schaute auf die Wand, auf der sich das Wasser des Kanals spiegelte, das von Zeit zu Zeit von Lichtblitzen durchzuckt wurde, die von den Gondeln mit ihren Lampen stammten.
Sie schloss die Augen und fragte sich, was der morgige Tag bringen würde.
Am frühen Morgen erwachte sie durch die lauten Stimmen der Barkenführer, die ihre Waren zum Rialto transportierten. Sie stieg aus dem Bett, streckte einen Finger in den Waschkrug und stellte fest, dass das Wasser warm war. Irgendeiner dieser unsichtbaren servi hatte es vermutlich bereits gebracht, als sie noch schlief.
Sie machte sich zurecht, stieg dann rasch die Treppe hinunter, als sie unten ein Hämmern hörte. Sie fand Renzo auf einer Leiter, auf der ein Kübel stand mit einer Kelle darin. »Ihr könnt hier gleich weitermachen«, sagte er und nickte ihr zu, »ich muss für kurze Zeit weg.«
Sie lachte laut.
»Ich war nie zuvor ein Maurer«, sagte sie. »Ihr müsst mir schon zeigen, wie man es macht.«
»Sebastiano wird es Euch zeigen«, erwiderte Renzo und deutete zu einem jungen Mann hinüber, der soeben einen Sack aus dem Lastkahn holte und ihn auf der Schulter ins Haus schleppte.
Bevor sie weitere Einwände vorbringen konnte, war Renzo verschwunden, und Sebastiano nahm eine Kelle in die Hand und zeigte ihr, wie sie den Putz aufzutragen hatte.
»Bringt nicht zu viel davon auf Eure Hand«, warnte er, »es ist ein Gemisch, in dem auch Kalk enthalten ist. Und dann immer mit Schwung«, erklärte er und warf den Mörtel auf die Wand. »Es macht nichts, wenn etwas herunterfällt.«
»Ich vermute, bei mir fällt mehr herunter, als dass es kleben bleibt«, sagte Crestina nach einer Weile, in der ihr Erfolg nicht eben übermächtig war und der Mörtelberg zu Füßen ihrer Leiter beträchtlich wuchs.
Sebastiano lachte.
»Mir ging es auch nicht anders am ersten Tag meiner Arbeit. Heute Mittag werdet Ihr schon besser sein.«
Sie bezweifelte zwar seine Aussage, aber dann stellte sie nach kurzer Zeit fest, dass er Recht hatte: Zwar sah der kleine Abschnitt, den sie hinter sich gebracht hatte, nicht eben gleichmäßig aus, aber immerhin blieb die Masse an der Wand kleben. Irgendwann spürte sie Blasen an ihrer rechten Hand, aber sie war nicht einmal bereit, sie Renzo vorzuführen, als er um die Mittagszeit zurückkehrte.
Er brachte in einem kleinen Beutel Käse, Brot und Wein. Sie setzten sich zu dritt auf die Bänke des Lastkahnes und verzehrten ihr Mahl. Und sie hoffte, dass nicht Leonardo oder Margarete oder Lea zu dieser Stunde hier vorbeikommen und sie in dieser mehr als seltsamen ›Maske‹ auf einem Lastkahn entdecken würden.
Am Nachmittag zeigte ihr Renzo, wie er außen am Palazzo die Fresken abnahm, um sie im Inneren des Hauses wieder anzubringen, damit sie nicht weiter zerstört
Weitere Kostenlose Bücher