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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bayer
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sah die Piloten, die Rammpfähle, Stamm an Stamm wie hölzerne Soldaten nebeneinander gereiht. Sie sah die Algen, die einen dichten Belag um die Pfähle bildeten, die Geflechte, die die Erdanschüttungen festhielten. Sie sah auch die Reste verwüsteter Städte, die seit Jahrhunderten als Steinbruch für Neubauten benutzt worden waren.
    Und sie sah den Mond im Wasser, verschwommen, als wolle er gerade zum Vollmond hinüberwechseln. Irgendwelche kleinen Fische, die in Schwärmen herbeischwammen, leuchteten kurz auf, waren vorüber, ehe sie wahrnehmen konnten, um welche Fische es sich handelte.
    Sie berührte mit ihren Händen den Boden, auf dem sie stand, spürte den Schlick unter ihren Fingern, warf einen weiteren Blick zu Renzo hinüber, der sie führte und es ihr gleichtat, genauso, wie er es ihr zuvor gezeigt hatte. Sie nahm seinen wachsamen Blick wahr, seine Augen prüften ihr Gesicht, dann zog er sie sanft nach oben, da er vermutlich das Gefühl hatte, dass ihre Luft inzwischen knapp wurde. Und dies, obwohl er sie zuvor hatte pumpen lassen wie ein Maikäfer.
    Sie tauchten langsam auf. Er entfernte im Auftauchen einige Steine aus ihrem Steingürtel, dann sahen sie über sich die dunklen Umrisse der Barke, an deren Rändern sie sich emporziehen konnten.
    Sie prustete das Wasser aus, schüttelte den Kopf, spürte, wie der Druck in ihren Ohren langsam nachließ. Sie hielten sich beide tief atmend am Rand des Bootes fest, nahmen die Masken ab. Renzo strich ihr mit einer sachlichen Handbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    »Klettern wir hoch?«, fragte sie mühsam.
    Renzo lachte.
    »Nur für den Augenblick. Jetzt kommt die Hauptsache.«
    »Die Hauptsache?«
    »Diesmal braucht Ihr keine Maske, auch keine Maikäferübung und kein Hecheln, folgt mir einfach.«
    Er ließ sie in einen der anderen Kähne steigen, half ihr beim Überqueren des nächsten Kahns, dann entdeckte sie, dass sie um eine Ecke in einen sehr schmalen Seitenkanal kamen, der ganz offensichtlich an dieser Stelle leer gepumpt worden war, vermutlich, um besser arbeiten zu können. Sie stiegen hintereinander eine Leiter hinunter, dann stellte sie fest, dass sie nun zwischen die Piloten schauen konnte, die hier weniger dicht standen. Renzo, der ihr nachgestiegen war, zwang sie in eine Umarmung mit einem Rammpfeiler, dann zog er sie mit sich in die Mitte der Unterwelt des Palazzos. Er legte den Arm um ihre Schulter und begann mit ihr in dem bereits schwindenden Tageslicht zu tanzen.
    Sie schloss die Augen, stellte sich das Gewicht des Palazzos über ihr vor, öffnete die Augen wieder und sah Renzo an.
    »Es ist verrückt, ich weiß«, sagte er lächelnd, »aber Ihr dürft sicher sein, dass Euch nichts geschieht. Das Haus ist zwar schon einige Jahrhunderte alt, aber es fällt gewiss nicht zusammen. Zumindest nicht in diesem Augenblick, in dem wir hier tanzen.«
    Wieder schloss sie die Augen, drehte sich mit diesem Mann, den sie kaum kannte, zwischen den Piloten, spürte die Feuchtigkeit der Algen durch ihre Kleider hindurch, roch den moderigen Geruch des Holzes. Sie spürte ein leichtes Schwanken des Bodens, ihre Füße standen nicht immer eben, aber die Traumhaftigkeit ihres Tuns ließ alles andere verblassen.
    Als Renzo sie nach einer Weile sanft aus dem Gewirr der Piloten herausführte und sie nach oben stiegen, hatte sie das Gefühl, für einen Augenblick nicht in dieser Welt gewesen zu sein.
    Er zog sie wieder in das Transportboot, sie verließen die Barke, stiegen über die Wassertreppe in den Palazzo. Renzo führte sie in die Küche, die aussah, als sei sie bereits benutzbar. »Ihr könnt Euch hier umziehen«, sagte er dann und reichte ihr Handtücher. »Ich gehe nach oben. Wenn Ihr fertig seid, kommt nach.«
    Sie stieg aus dem Arbeitsanzug und legte die Kleider an, die in der Nähe des Herds über einer Stange hingen: eine weiße bautta . Dann ging sie die Treppe hinauf, deren Treppenstufen sie an ihren eigenen Palazzo erinnerten: ausgetreten, knarrend, an manchen Stellen zerfressen vom Hochwasser.
    Als sie in die sala trat, blieb sie an der Treppe stehen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht das Bild, das sich ihr bot. An den Wänden steckten Kerzen in Kerzenhaltern, auf einem kleinen Tisch mit einer alten kostbaren Spitzendecke standen Teller und Schüsseln, von denen ein betörender Duft emporstieg. Dass der Mosaikboden über weite Strecken zerstört war, die Ziegelsteine zerbröckelt, der Stuck an den Decken

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