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Stadt der blauen Paläste

Stadt der blauen Paläste

Titel: Stadt der blauen Paläste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Bayer
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vermutlich das Material für die Restaurierung dieses Hauses enthielten.
    »Das ist es«, sagte Renzo und strich behutsam über eine der halb zerstörten Fresken, deren Ursprung nur noch zu ahnen war. »Ich bin nicht sicher, ob ich es so wiederherstellen kann, wie ich möchte, aber ich versuche es bereits seit einiger Zeit.«
    »Wem gehört er?«
    »Im Augenblick mir, ich habe ihn gekauft. Irgendwer hatte genug von ihm, weil er nicht mehr den Glanz seiner frühen Zeit zeigte und vermutlich –«
    »Ihr habt ihn gekauft, weil Ihr Mitleid mit diesem Haus hattet?«, unterbrach sie ihn ungläubig.
    »Mehr oder weniger«, sagte er zögernd, »aber natürlich reizt mich die Arbeit an ihm. Es fasziniert mich eben, etwas wieder ganz zu machen, das so zerstört ist, dass es eigentlich schon kaum mehr existiert.«
    »Seid Ihr sicher, dass der Boden noch intakt ist und nicht bereits absackt?«
    »Genau darum geht es«, gab er zurück. »Ihr dürft Euch selbst davon überzeugen«, sagte er und sah sie erwartungsvoll an.
    »Was meint Ihr damit?«
    »Nun, ich werde Euch jetzt zeigen, wie diese Stadt unter Wasser aussieht, ich bin sicher, dass Ihr es bis heute nicht wisst.«
    Sie lachte belustigt. »Und wie soll das gehen? Soll ich etwa hinuntersteigen unter diesen halb zerfallenen Palazzo?«
    Er ging ihr voraus und führte sie auf einem Holzsteg in das androne , dessen Boden zum Teil aufgerissen war. Er führte sie in die Küche, die in einem der Nebenräume lag, die zum Kanal hinausgingen.
    »Hier liegen Eure Kleider, die Ihr anziehen könnt«, sagte er dann mit aller Selbstverständlichkeit. »Wenn Ihr fertig seid, binde ich Euch den Steingürtel um und setze Euch die Maske auf.«
    Sie lachte mit einem Mal nicht mehr. »Ist das Euer Ernst?«, fragte sie dann.
    »Natürlich ist es das«, gab er zurück, als sei es das Normalste auf der Welt. »Wolltet Ihr nicht ausprobieren, wie das ist, ein Anderer zu sein? Ein Maurer, zum Beispiel, ein Steinmetz, ein Hilfsarbeiter, ein Mörtelanrührer? Ihr dürft ganz sicher sein, dass Ihr dann die gleichen Gefühle empfinden werdet wie alle, die da draußen jetzt über San Marco wandeln. Auf eine andere Weise selbstverständlich. Aber Ihr werdet diesen carnevale so erleben, wie Ihr ihn nie zuvor erlebt habt.«
    »Habt Ihr Euch wirklich vorgestellt, dass ich hier hinuntersteige und dieses Haus von unten betrachte?«, fragte sie fassungslos.
    »Was glaubt Ihr wohl, wie diese Paläste sonst restauriert werden könnten? Hier in diesen Lastkähnen befindet sich das Material, mit dem die Rammpfähle in den Schlick getrieben werden, in den Stein, mit dem die Matten befestigt werden, auf denen später der Palazzo dann stehen kann wie auf einer Platte.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Woher seid Ihr überhaupt so sicher, dass ich schwimmen kann?«
    »Euer Bruder hat in Padua in den Freundeskreisen immer von seiner Schwester erzählt, die wie ein Fisch schwimmen könne.«
    »Das hat Riccardo getan?«, fragte sie ungläubig.
    »Weshalb nicht? Er war so stolz auf Euch. Niemand von uns hatte eine Schwester, die schwimmen konnte wie ein Fisch. Und außerdem noch tauchen.«
    »Ich habe es seit Jahren nicht mehr getan«, erwiderte sie zögernd. »Mit wem auch?«
    »Dann wird es Zeit, dass Ihr es wieder übt«, sagte Renzo und ließ sie zurück.
    Sie stand in der Kammer, in der auf einem Stuhl Arbeitskleider lagen, wie sie die Männer trugen, die sie sonst auf irgendwelchen Gerüsten stehen sah. Sie legte die Kleider an, betrachtete sich in einem Spiegel an der Wand.
    »Sie werden mich nach San Clémente schicken, wenn mich jemand erkennt«, murmelte sie. Aber seltsamerweise störte es sie nicht.
    Die Kälte des Wassers empfing sie wie ein Schock. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie in der nächsten Sekunde wieder aus der Finsternis emporsteigen, die Haare aus der Mütze nehmen, den Steingürtel, den Renzo ihr um die Hüfte geschnürt hatte, ablegen und das Licht des Tages, das es nur noch in Spuren gab, in sich aufsaugen, um für immer gegen die Finsternis gefeit zu sein.
    Aber nach den ersten Sekunden des Schreckens, spürte sie ihre Hand in der Hand Renzos, sie spürte seine Wärme durch die Handschuhe hindurch, spürte die Kraft, die er ihr gab. Sie konnte ihn durch die Maske, die nicht ganz dicht war, erkennen, die Lampe, die er ihr mit dem Lederband auf der Stirn befestigt hatte, und die zweite, die in seiner Hand pendelte, zeigten die Konturen unter Wasser deutlicher, als sie es erwartet hatte: Sie

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