Stadt der blauen Paläste
sich nach der Art der Denunziationen, aber sie stellte fest, dass es sie nicht mehr so berührte wie damals, als ihr Bruder noch lebte. Es war so, als sei alles träger geworden, und die Gefahr, die sie einst gereizt hatte, ließ das frühere Prickeln vermissen, wobei sie nicht einmal hätte sagen können, woher dies kam. Zu Beginn, unmittelbar nach Riccardos Tod, hatten sie ihr Aufgaben zugewiesen, hatten sie gefährliche Kurierdienste durchführen lassen, sie hierhin und dorthin geschickt, um ihr neues Vertrauen zu geben, das sie mit dem Tod des Bruders verloren hatte. Dann, als sie irgendwann feststellte, dass man sie aus der Ferne stets behütet hatte, im Geheimen einen Aufpasser mitschickte – ihre Arbeit aus ihrer Sicht damit wertlos machte –, war sie irgendwann in einen Zustand der Gleichgültigkeit geraten. Es war ihr nichts mehr wichtig gewesen, sie hatte vor sich hin gelebt, an manchen Tagen ohne überhaupt wahrzunehmen, dass sie lebte. Als sie dann nach endlosen Querelen nach drei Jahren den Palazzo zurückerhielt, der betrügerische avvocato entlarvt war und seine gerechte Strafe bekommen hatte, war sie zurückgeschreckt vor der Verantwortung, die sie nun zu tragen bestimmt war, und sie hatte alles stehen und liegen lassen, obwohl ihr klar war, dass sie irgendwann würde eine Entscheidung treffen müssen, ganz gleich welche.
Jetzt, da sie die geöffneten Briefe vor den Männern liegen sah und diese kopfschüttelnd oder auch zornig in den Papieren wühlten, stand sie auf, schlenderte zwischen den aufgehängten Fischernetzen hindurch und schaute sich nach dem Flickmaterial um, das stets an einem bestimmten Platz lag.
»Wir brauchen deine Hilfe«, rief Marcello zu ihr hinüber, als sie sich niederlassen wollte. »Deswegen haben wir dich hergebeten.«
Also nicht Leonardo, dachte sie erleichtert und kehrte zu den Männern zurück, es sei denn, er hatte Marcello gebeten, das Wort zu führen in einer Sache, von der sie noch nichts wusste. Sie ließ sich auf einer Matte nieder und zog die Füße an.
»Wir brauchen dich dringend«, sagte Silvestro und zog aus seinem Ledersack ein zusammengerolltes Manuskript. »Das hier muss in den nächsten Tagen nach Padua.«
Sie sah zu Leonardo hinüber, sah, wie er den Blick vermied, und hatte das Gefühl, dass er sich ganz bewusst bisher nicht am Gespräch beteiligte.
»Und wo liegt das Problem«, wollte sie wissen, »wenn es diesmal nicht um das Fälschen von Inventarlisten geht, wobei ich gerne helfen würde?«
»Das Problem ist, dass der Professor, der es nach Basel schmuggeln soll, bereits zweimal erwischt worden ist, nachts auf der Lagune, mit verbotenen Büchern. Das Problem ist, dass Alvise mit seiner Schauspielgruppe nach Florenz unterwegs ist zu der Aufführung eines neuen Stückes und dass die Frau von Benedetto ihr erstes Kind bekommt. Und da sie draußen auf einer der abgelegenen Inseln wohnen, auf denen es keine Hebamme gibt, macht sie sich Sorgen, wenn ihr Mann nicht bei ihr ist.«
Crestina schaute zu Leonardo.
»Und was ist mit dir?«
Leonardo zuckte mit den Schultern. »Ich muss zu einer Vorladung. Bei unserer heiß geliebten Behörde. Bei der Inquisition. Was daraus wird, weiß niemand.«
Sie verschränkte die Finger, schaute die Männer der Reihe nach an.
»Es ist schon eine ganze Weile her, seit ich für euch unterwegs war«, sagte sie dann vage.
»Nun, wir denken, dass du noch immer gut im Sattel bist, wir vermuten, dass du von uns allen am unverdächtigsten bist, und außerdem meinen wir auch, dass du es Riccardo schuldig bist.«
Sie stieß die Luft aus.
»So will ich das ganz gewiss nicht sehen«, sagte sie dann schroff. »Wenn ich es mache, dann mache ich es, weil ich gegen diese Obrigkeit bin. Heute wie damals.«
Sie nahm das Manuskript in die Hand, blätterte darin, hob den Kopf.
»Wenn sie mich damit erwischen, lande ich im Canale Orfano. Vergiftet.«
»Sie erwischen dich nicht«, beteuerte Alvise. »Glaubst du im Ernst, dass wir dich um etwas bitten würden, was so gefährlich ist, dass es dich den Kopf kostet?«
»Aber garantieren könnt ihr auch nicht für diesen Kopf«, sagte sie und blätterte erneut in dem Manuskript. »Nicht mal Von der Freiheit eines Christenmenschen«, stellte sie dann fest, »nichts weiter als ein völlig beliebiges okkultes Buch.«
»Du weißt, dass sie genau diese Art von Büchern mehr ärgert als der ganze Luther«, sagte Leonardo heftig. »Die Hälfte aller Bücher auf dem Index gehören zu den
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