Stadt der blauen Paläste
genug fort gewesen war und es Zeit war, nach Hause zu kommen, nachdem ich all das erreicht hatte, was ich erreichen wollte. Und natürlich wollte ich auch wissen, wie es dir und deiner Familie inzwischen geht, nach dieser langen Zeit.«
»Meiner Familie?«
Sie streckte ihm die Hand entgegen und machte das gleiche Ritual wie kurz zuvor, bog einen Finger nach dem anderen zurück.
»Meine Familie, das bin ich. Alle anderen haben Venedig verlassen.«
Leonardo strich ihr leicht über den Arm.
»Nun, zumindest ein Mitglied deiner Familie habe ich vorhin kennen gelernt, Clemens.«
Sie winkte ab.
»Er wird nicht mehr lange hier sein. Er ist schon auf dem Sprung nach Alexandria. Oder nach Konstantinopel. Oder sonst wohin.«
»Nun ja, aber deine beiden Freundinnen, Lea und Margarete, wird es ja wohl noch geben.«
»Es gibt sie schon noch, aber für den Augenblick sind sie genauso weg wie meine beiden Kinder Ludovico und Bianca. Die Vorstellung, Kinder zu haben, dauert auch nur so lange, wie sie im Haus sind. Hast du welche?«, fragte sie dann rasch.
»Kinder, ich?«, fragte er dann so, als habe sie nach dem Mond gefragt und ob er ihn in der Tasche mit sich trage.
»Nun ja, du könntest ja schließlich geheiratet haben. Und dann sind Kinder doch …«
Er sah sie eindringlich an und schüttelte den Kopf.
»Ich habe nie geheiratet, das solltest du doch eigentlich wissen.«
Er machte eine Pause und schaute über das Wasser.
»Und habe auch keine Kinder.«
»Ach so«, sagte sie etwas ratlos, als sei sie an diesem Zustand schuld, dass Leonardo weder geheiratet noch Kinder bekommen hatte. »Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fuhr sie dann fort. »Ich habe niemandem gesagt, wo ich hinfahren wollte.«
»Clemens meinte, du hättest heute Morgen beim Morgenessen ein Gesicht gemacht, als wolltest du einen Spaziergang im Orkus machen.«
Sie lachte.
»Nun, ganz so schlimm kann es nicht gewesen sein, aber ich sagte ihm, dass ich den Maskareta, den Jagdkahn, nehme. Daraus schloss er dann vermutlich, dass ich zur laguna morta fahren wollte, nachdem wir neulich erst darüber gesprochen hatten. Aber er wusste natürlich nicht, wo genau ich hinwollte, weil er nie dort war.«
»Aber ich wusste es«, sagte Leonardo und blickte sich um, »schließlich habe ich damals mitgeholfen, die Insel so zu machen, wie sie später war.«
»Was meinst du damit?«, fragte sie irritiert.
»Nun, diese Insel war eine Insel wie all die anderen auch hier um uns herum: halb abgesunken, vom Schilf umwuchert, irgendwelche Farne darauf. Aber du«, er stockte, »du bist schon immer ein besonders wissbegieriges Kind gewesen, und vor allem wolltest du wissen, was vor dieser Stadt war, in der wir heute leben. Und«, er stockte ein zweites Mal, »so trugen wir die Reste dieser Besiedlung von einst zusammen. Hier die Überreste einer zerborstenen Säule, da ein paar zerbrochene Ziegel mit einer römischen Inschrift. Ich fand einmal einen steinernen Kopf mit einer halben Nase, der ebenfalls von den Römern stammen konnte. Wir trugen alles von den anderen Inseln zusammen und hofften, dass es dir Freude machen würde. Und das tat es ja dann auch.«
»Also eine künstliche Insel«, sagte Crestina, halb enttäuscht, halb verblüfft. »Und gar nicht in allem von Riccardo.«
Leonardo ergriff ihre Hand und küsste sie.
»Natürlich auch von Riccardo, von mir war der kleinste Teil der Sammlung. Und ich weiß wirklich nicht mehr genau, was es war. Ich glaube, eine halb zerbrochene Marmorplatte, die inzwischen auch schon wieder irgendwohin abgesunken ist. Riccardo war es egal, wer von uns fündig wurde, es sollte dir Freude machen. Und ist das eigentlich schlecht, zu wissen, dass man von mehr Menschen geliebt wurde und wird, als man sich vorstellen kann?«
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Crestina zu sagen und schaute sich um. »Und es ist natürlich schön, dass du auch daran Teil hattest. An dieser Insel.«
Leonardo wandte sich um und ging zu seinem Boot zurück.
»Es gibt noch etwas, was dich vielleicht interessieren wird. Deswegen bin ich heute Morgen in erster Linie zu dir in den Palazzo gegangen.«
Er kam zurück mit einer Mappe unter dem Arm, der er ein Buch entnahm. Ein in blaues Leder eingebundenes Buch, das er Crestina in den Schoß legte.
»Ein Buch«, sagte sie verblüfft, »ein blaues Buch.«
»Ja, ein blaues Buch, dessen Blätter ich erst vor kurzem wieder gefunden habe«, sagte Leonardo und hob ihr den Lederrücken an die Nase.
Weitere Kostenlose Bücher