Stadt der blauen Paläste
genauso die Universität in Padua besucht wie ihr Bruder, sogar etwas länger.
Aber die ›Chrestina‹ lag nicht am Kai.
Was sie an der Stelle fand, an der das Schiff gelegen hatte, war lediglich ein Anker, mit dem vermutlich etwas nicht in Ordnung gewesen war.
Das Schiff musste also unmittelbar gechartert worden sein, nachdem Clemens die Verfügungsgewalt über die Reederei erhalten hatte. Oder sie war verkauft worden. Clemens musste bereits vorweg einen Käufer gehabt haben, als sie zu dem Notar gegangen waren. Vielleicht daher auch seine Verlegenheit beim Abschluss dieses Geschäfts, als sie sich geweigert hatte, den Vertrag zu lesen.
Die Abwicklung hatte am vergangenen Tag stattgefunden. Sie wäre am liebsten nicht anwesend gewesen, aber natürlich war dies nicht möglich. Sie hatte ihre Unterschrift unter einen Vertrag gesetzt, ohne ihn zu lesen, was sie nie zuvor getan hatte. Und Clemens damit in Verlegenheit gebracht.
»Du kannst doch nicht einfach so …«, hatte er stockend gesagt, »… ich meine –«
»Ich nehme nicht an, dass mich mein Sohn betrügt«, hatte sie ruhig gesagt.
»Gewiss nicht«, hatte Clemens rasch geantwortet, »natürlich nicht. Nur –«
Aber sie war ohne sich von dem Notar zu verabschieden aus der Tür gegangen. Obwohl sie sich schäbig vorkam, da der Mann nichts weiter getan hatte, als seine Arbeit zu erledigen.
Jetzt war sie am Kai und fragte sich, wie man sich von einem Schiff verabschiedete, von dem lediglich der Anker übrig geblieben war. Von einem Schiff, das man geliebt hatte. Mit dem es hunderte von Erinnerungen gab.
An der übernächsten Anlegestelle am Kai lag ein Schiff, das soeben einen neuen Namen bekam. Sie sah die Farbeimer auf Deck stehen, Matrosen sangen fröhlich vor sich hin, als sie die Pinsel säuberten.
Ihr Schiff würde also vermutlich ebenfalls mit einem neuen Namen auf seine nächste Reise gehen. Sie wollte sich nicht fragen, welch ein Name dies sein konnte.
Sie hatte lediglich ihre Hand kurz auf den Anker gelegt, wobei sie sich bereits mehr als sentimental vorgekommen war.
Auf dem Heimweg wurde ihr dann zum ersten Mal richtig bewusst, was sich in diesem Büro bei dem Notar eigentlich abgespielt hatte: Es war ihr klar, dass sie nun nichts mehr besaß. Nichts von ›Wert‹, wie das so schön hieß. Natürlich gehörte ihr der Palazzo noch. Aber irgendwann würden ihre Kinder sicher auch diesen Palazzo sich aneignen wollen, ihn besitzen wollen. Sie würde nicht mehr bestimmen dürfen, wo dieser Gegenstand seinen Platz fand oder jener. Oder welcher Gegenstand es überhaupt war, der zur Diskussion stand. Sie würde weder über die Gerüche in diesem Haus entscheiden dürfen, über die Geräusche, über die Stimmen. Sie würde eine Besucherin sein in einer Welt, die sie sich einst geschaffen hatte. Und die ihr abverlangt wurde, als sei sie selbst bereits seit Äonen nicht mehr vorhanden.
Und sie fragte sich, wie eng eine Familie verknüpft war, dass solche Gefühle überhaupt entstehen konnten.
22. Laguna morta
Es gab drei Orte, zu denen Crestina in bestimmten Situationen ging, um sich Kraft zu holen: Torcello, wegen der blauen Madonna, um zu beten, dann die limonaia, das Gewächshaus an der Brenta, wegen der Vergangenheit, und schließlich die laguna morta, wegen der abgrundtiefen Traurigkeit des Wortes.
Jeder, der diesen Namen zum ersten Male hörte, stellte sich wilde Dinge vor. Die meisten dachten dabei an das Tote Meer, in dem es nichts Lebendiges mehr gab und man die Füße kaum mehr auf den Boden brachte. Aber das traf hier nicht zu. Die Bezeichnung hatte nichts mit dem Salzgehalt des Wassers zu tun. Sie hatte lediglich damit zu tun, dass es hier keine Ebbe und Flut mehr gab, dass es andere Fische gab und eine teilweise andere Flora. Dafür gab es Dutzende von Inseln und Inselchen, die zum Teil ineinander übergingen. Das Ufer zum Festland war ausgefranst, mit Schilf bestanden, der Geruch war an manchen Tagen stark von Fäulnis durchzogen. Auf jeden Fall passte er sich ihrer Stimmung an, mit der sie heute hier herausgefahren war.
Sie wollte nachdenken.
Auf ihrem Inselchen, das sie einst isola déserta getauft hatte. Zusammen mit Riccardo. Das Inselchen war bereits damals bis zu einem Drittel im Wasser eingetaucht, was seine morbide Atmosphäre verstärkte, aber auch nicht unbedingt etwas Besonderes war, denn mehr als hundert besiedelte Inseln waren seit der Römerzeit bereits untergegangen. Die Tiefe des Wassers war gering, an
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