Stadt der blauen Paläste
intensiver geworden. Natürlich waren diese Besuche ohne das Wissen der Eltern geschehen, und nicht einmal Riccardo war in diese Verschwörung mit eingeweiht gewesen.
»Was wird ein Mann schon darüber wissen, was es in den Sümpfen zu suchen gibt?«, pflegte Anna stets abfällig zu sagen, so, als seien Enten, Blesshühner und Bekassinen Frauensache. Aber natürlich ging es nicht nur um Enten und Bekassinen. Es ging um Kräuter, die Anna ›dort irgendwo‹, wie sie sagte, zu suchen pflegte, wobei dieses Irgendwo ein sehr genau umrissener Ort war, den eben nur sie kannte und von dem nicht einmal sicher war, ob Anna bei diesen Orten nicht vielleicht sogar selbst die Hand im Spiel hatte. »Das gab's früher hier nicht«, konnte sie zum Beispiel flüsternd und mit verschwörerischem Ton sagen. »Ich habe dafür gesorgt, dass es jetzt hier wächst.«
Crestina stapfte also bereits damals bereitwillig hinter den breiten Rockschößen Annas hinterher, einen Korb am Arm, auf dem Kopf eine Haube, sodass sie sich kaum von den Bauernmädchen unterschied, wenn jemand sie dort angetroffen hätte. Aber es traf sie natürlich niemand dort an. Anna hatte ihre Schleichwege, sie wusste genau, in welchem Monat sie dieses oder jenes Kraut finden und ernten konnte, und sie wusste ebenso gut, wie es zu verwenden war.
»Den Fenchel so spät wie möglich im Herbst oder im Winter, erst, wenn die Dolden schon ein paarmal geerntet sind, dann nimmt man die ganze Pflanze. Sein Öl ist dann fast um die Hälfte höher als in der Erntezeit«, konnte sie zum Beispiel sagen. Oder: »Die Hagebutten sind natürlich nicht nur für den Tee. Wenn du die Kerne auspresst, dann hast du ein wunderbares Hautöl, das man schon im Altertum verwendet hat.«
Im Palazzo gab es niemanden, der sich nicht auf Annas Heilkünste verlassen hätte. Die Diener wollten ohnehin keinen dottore und die Familie Zibatti schwor ebenfalls auf Annas Künste. Der Dottore wurde nur für Crestinas Stiefmutter bemüht, und da ging es weniger um echte Krankheiten als um eingebildete.
»Ich werde gewiss den Schlagfluss bekommen, wenn ich nicht möglichst bald in eines dieser berühmten Bäder gehen kann«, pflegte sie in gewissen Zeitabständen zu jammern, wobei die Bäder lediglich dazu dienten, ihren neuesten Kleiderstaat vorzuführen und mit ihrem Cicisbeo zu schäkern. Oder: »Weshalb kann mir niemand erklären, woher diese schrecklichen braunen Flecken auf meiner Hand herrühren«, konnte sie klagen, und jedermann rannte dann mit Schüsseln und Rosenwasser herbei, mit Salben und Tinkturen, wovon die braunen Flecken allenfalls stärker wurden, als sich in Luft aufzulösen.
Crestinas Erinnerungen und Sehnsüchte an Lagune und Sümpfe hatten die Zeit nach Riccardos Tod überstanden. Genau genommen hatten diese Sümpfe ihr geholfen, die Leere auszufüllen nach ihren endlosen Umzügen in der Stadt, in denen sie selbst weder Sinn noch Erfüllung gefunden hatte. In den Sümpfen dagegen konnte sie zwischen den einzelnen Schilfinseln umherstreifen, konnte mit schmutzverschmierten Kleidern, die sie erst wechselte, wenn sie wieder in die Stadt zurückkehrte, stundenlang auf einem Stein sitzen und in den Himmel blicken. Wenn sie zurückkam mit ihrem Boot, das sie sich irgendwann angeschafft hatte, weil sie nicht auf die Hilfe von irgendwelchen Bootsführern angewiesen sein wollte, hatte sie stets das Gefühl, dass sie einen winzigen Schritt ihrer Gesundung entgegenging. Einer Gesundung, die allerdings nie allzu lange anhielt, da sie fast jedes Mal mit nahezu magischer Gewalt am Ende ihrer Tour meist auf jener Insel landete, die das eigentliche Ziel ihrer Fahrten auf der Lagune war: die Insel, auf der Riccardo damals an der Pest gestorben war. Die Insel, auf der sie noch immer diese schwarzrote Rose wässerte, damit sie jedes Jahr von neuem zur Blüte kam.
Nun, nach diesem wenig glücklichen Treffen mit Leonardo vor kurzem, das sie mehr als unzufrieden zurückgelassen hatte, war ihr Bedürfnis stärker denn je gewesen, wieder einmal zu dieser Insel, die sie Riccardos Insel nannte, zu fahren. Aber dann kam urplötzlich die Erinnerung an die anderen Sumpfinseln, die sie liebte: Sie erinnerte sich plötzlich an den kleinen Teich mit den Meeräschen und an ganz bestimmte Kräuter, auch wenn jetzt nicht die richtige Zeit für die Ernte war.
Als sie an diesem Morgen daher aufgebrochen war, war es kaum ein Tag, der zu einem längeren Verbleiben in der Lagune verlockt hätte. Es war ein
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