Stadt der blauen Paläste
tiefgrauer, verhangener Tag, nicht die Spur eines Farbtupfens war am Himmel auszumachen. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, und es schien, als ob der nächste Regen bereits über dem Wasser hing. Möglicherweise stand sogar das nächste acqua alta bevor, das Hochwasser, und sie stellte sich vor, dass sie mit ihren nassen Schuhen über den überfluteten Markusplatz gehen würde, und wenn sie Pech hatte, würde irgendein ungeschickter Mensch sie möglicherweise von diesem schmalen Steg ins Wasser stoßen, wie es ihr bereits einmal passiert war. Aber trotz des unfreundlichen Wetters hatte sie stets das Gefühl einer besonderen Lebendigkeit, wenn sie hier abtauchte. Die absolute Stille, die nur in großen Abständen vom Flügelschlag irgendwelcher Vögel durchbrochen wurde, beruhigte sie, machte sie fröhlicher, als sie es sich zu erhoffen wagte. Niemand, der sie nach diesem Palazzo fragte, der ihr aufgezwungen worden war, niemand, der wissen wollte, ob sie endlich eine Bleibe gefunden hatte in dieser großen Stadt, niemand, der sich darüber mokierte, dass sie mehr oder weniger ›aus Truhen lebte‹, weil sie zu jeder Zeit bereit sein wollte zum Aufbruch.
Jetzt, da sie sich der Salineninsel näherte, erlosch ihre Heiterkeit allmählich, weil sie sich im Unklaren war, wie sie diese Begegnung mit dem Unbekannten einstufen sollte. Wie sie sie beenden sollte, ohne weitere Unhöflichkeiten zu begehen. Bis jetzt hatte keiner von ihnen auch nur den Ansatz gezeigt, seinen Namen preiszugeben.
»Ihr braucht Euch nicht weiter zu bemühen«, sagte der Mann hastig, als das Boot am Strand auflief, »mein Helfer ist bereits da. Ihr braucht das Boot auch nicht erst festzumachen, es ist seicht hier.«
Sie sah einen Jungen am Ufer, konnte aber kein Boot bei ihm entdecken.
»Ich frage mich, wie Ihr in die Stadt zurückkommen wollt«, sinnierte sie. »Ohne Boot dürfte es schwierig sein.«
»Ich will nicht in die Stadt«, antwortete er rasch. »Ich bleibe hier.«
»Hier? In den Salinen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Viele Salinenarbeiter bleiben an bestimmten Tagen in den Salinen. Das Salz wird morgen abgeholt.«
Also Dachdecker, Maurer und jetzt auch noch Salinenarbeiter, überlegte sie, als sie das Boot wendete, die Meeräschen sollten ihm gut bekommen. Vermutlich teilte er sie mit dem Jungen am Strand vor der baufälligen Hütte, die am Rande der Salzfelder stand.
Der Abschied war mehr als kühl. Der Mann nickte ihr zu, murmelte etwas undeutlich vor sich hin, was ein Danke sein konnte, dann sprang er ans Ufer und winkte. Sie winkte zurück.
Als sie später ihren Bootsplatz am Kai erreichte, hatte sie das Gefühl, als sei das Geheimnis, das diesen Mann umgab, noch um etliches größer geworden. Und sie dachte, dass sie ihr beiderseitiges Abschiedswinken auch ebenso gut hätten bleiben lassen können, da keiner von ihnen beiden etwas damit hatte zum Ausdruck bringen wollen. Und vermutlich würde sie diesen Mann auch ganz gewiss nicht so rasch wiedersehen, falls er nicht eines Tages ein zweites Mal ungebeten vor der limonaia auftauchte.
Wobei sie unsicher war, ob sie dies wollte oder nicht.
10. Ritt nach Padua
Sie trug Riccardos Kleider, wenn sie sich auf den Weg nach Padua begab.
Sie legte das Gewand, das aus Pantalone, Wams und Hemd bestand, an, als sei es ein Festtagsgewand, obwohl es in den Augen einiger Leute ganz gewiss nicht dazu zählen würde: Es war seit mehr als fünf Jahren nicht gereinigt worden. Sie hatte es so, wie sie es nach Riccardos Tod in seiner versteckten Kammer hinter dem Schrank einst aufgefunden hatte, mit sich genommen, hatte es bei jedem ihrer zahlreichen Umzüge sorgfältig mit umgezogen, hatte das Tuch, in dem sie es verwahrte, regelmäßig ausgeschüttelt, damit die Kleider nicht dem Mottenfraß anheim fielen.
Wenn sie es aus seiner Umhüllung nahm, roch sie daran. Sie sog den Geruch des Stoffes ein, legte ihre Nase prüfend unter die Achseln des Wamses, aber es schien, als habe Riccardo zumindest an dieser Stelle keine Körperausscheidungen gehabt. Der intensivste Geruch lag auch nicht zwischen den Schulterblättern – der Schweiß war ihm ganz offensichtlich nie ›den Rücken hinuntergelaufen‹, wie das so hieß. Lange Zeit hatte sie sogar geglaubt, dass Riccardo überhaupt keinerlei Körperausscheidungen gehabt hatte, aber dann entdeckte sie eines Tages, dass das Bündchen seines Wamses einen ganz leichten Geruch verströmte. Er war kaum spürbar, und nur wer eine gute Nase hatte,
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