Stadt der blauen Paläste
Nachbarn, die überlebt hatten, brachten Moise zu Samson, so kam er nach Venedig, aber natürlich wusste niemand, wo er eigentlich hingehörte. Jeder nahm an, er stamme aus Spalato. Und dort ließen wir auch nach seinen Angehörigen suchen.«
»Aber doch nicht ganz gründlich«, warf Crestina ein.
Lea blickte nach unten.
»Nicht ganz gründlich, vielleicht.«
»Weshalb?«, wollte Margarete wissen.
»Weil Lea einen Jungen im etwa gleichen Alter verloren hatte. Sie verstand es so, dass, nun …«, Crestina stockte.
»Gott hatte ihn uns geschenkt«, verteidigte sich Lea, »weshalb hätte er ihn uns sonst auf diesem umständlichen Weg geschickt?«
Crestina warf Margarete einen Blick zu, und sie verstand. Für Lea lag alles in Gottes Hand, wenn es in ihre Planung passte. Ihre Fantasie fand keine Grenzen, wenn es galt, Dinge so hinzubiegen, dass sie mit ihnen glücklich sein konnte. Moise empfand sie als Geschenk des Himmels, und so war sie bereit, dieses Himmelsgeschenk in einem Maße zu verwöhnen, wie sie dies mit ihren eigenen Kindern nie getan hätte.
»Auf welches Grab will er denn die Steinchen legen?«, fragte Margarete irritiert. »Gibt es überhaupt eins? Ich meine eines, das seinen Eltern gehört, allein? Ich dachte immer, wer in der Pestzeit gestorben ist, hatte kein eigenes Grab.«
»Natürlich gibt es keine Einzelgräber«, sagte Lea erregt, »zumindest nicht hier bei uns in Venedig. Ich weiß natürlich nicht, wie es in Livorno ist oder in Spalato, ich war nie dort. Aber vermutlich werden sie auch in Livorno den Pesttoten keine eigenen Gräber gegeben haben. Genau wie bei uns. ›Hebrei‹ haben sie später irgendwann auf einen Grabstein geschrieben und die Jahreszahl, sonst nichts. Irgendwer hat dies getan, gewiss keine Juden, weil nämlich sonst ganz gewiss der übliche Segensspruch darauf gestanden hätte. Aber dieser schreckliche Junge im Ghetto, der Moise ständig quält und anstachelt, hat Moise vermutlich so lange zugesetzt, bis er glaubte, dass auch seine Eltern ein richtiges Grab haben müssten. Er hat mir einmal erzählt, dass dieser Junge ihn mitgenommen habe auf den jüdischen Friedhof auf dem Lido und ihm das Grab seiner Eltern gezeigt hat, auf das er Steinchen legen konnte. Es war ein Ort, an dem er trauern konnte. Aber diese Eltern sind nun mal nicht an der Pest gestorben, sondern irgendwann an einer anderen Krankheit. Und jetzt glaubt Moise nun eben, dass auch er das Recht hat, Steinchen zu legen auf ein Grab, das es nicht gibt. Und in Livorno schon gleich gar nicht, weil die Eltern zu jener Zeit zu Besuch in Spalato waren.«
»Hast du eigentlich nie versucht, ihm diese ganze schreckliche Situation wirklich deutlich zu machen?«, wollte Margarete wissen, als sie am anderen Morgen auf dem Weg waren.
Crestina und Lea lachten auf.
»Ihr Sohn, Samson, hat uns bereits dafür verrückt erklärt, was wir alles getan haben«, antwortete Crestina. »Wir haben ihn mitgenommen auf die Pestinsel, ihm das Grab Riccardos gezeigt, dieses Massengrab. In San Nicole auf dem Lido haben wir ihn an das jüdische Pestgrab geführt –«
»Das hat ihn eher verstört«, unterbrach Lea erregt, »erinnerst du dich? Dass kein Segensspruch auf dem Grab stand, dass hier hunderte von Toten liegen sollten, einer auf dem anderen, mit Kalk bestreut und –«
»Es waren diese pizzigamorti, die ihn verstörten«, unterbrach Crestina, »die Männer, die die Pesttoten forttrugen, sie in die Gruben warfen und sie dann mit Kalk bestreuten. Und er stellte sich vor, dass sie eines Tages ihn genauso mit Kalk bestreuen würden, weißt du noch?«
Lea nickte müde.
»Natürlich weiß ich das noch. Aber das hat alles nichts genützt. Er wollte eine Familie.«
»Die er nicht mehr haben kann, weil alle an der Pest gestorben sind.«
»Seid ihr da ganz sicher?«, bohrte Margarete.
»Es hat geheißen, dass alle an der Pest gestorben sind.«
»Wer hat das gesagt?«
»Samson hat sich erkundigt«, erregte sich Lea, und Crestina berührte Margaretes Arm. »Lass sie in Frieden. Es ist alles getan worden, was getan werden konnte.«
Eine Weile war Stille. Lea verließ die Kutsche.
»Ich dachte nur, da es vielleicht einen Grund geben könnte, dass man eben doch nicht alles getan hatte, was getan werden konnte.«
Crestina sah Margarete misstrauisch an.
»Was meinst du damit?«
»Nun, vielleicht war Lea so glücklich darüber, dass sie nun wieder ein Kind hatte, dass man eben doch nicht bis zum Letzten versuchte, die Sache
Weitere Kostenlose Bücher