Stadt der blauen Paläste
Teil des Raumes geschossen kam und sich in Leas Arme warf. Er zerrte an ihrem Umhang, schob sich darunter.
»Rate mal, mit wem ich hierher gekommen bin?«, fragte er dann lachend.
Wer immer auch angenommen hätte, dass dieses Gespräch anders verlaufen würde, dass vor allem Vorwürfe darin Platz haben würden, hätte sich getäuscht: Es war kaum anders, als sei Moise nur eben mal kurz über den Platz des ghetto nuovo gerannt und nun in den Buchladen zurückgekehrt.
»Du musst fragen, mit wem ich unterwegs war«, beharrte Moise, als sich inzwischen eine ganze Gruppe von Menschen um sie versammelt hatten, Frauen, Kinder, Jugendliche.
»Nun, mit wem warst du denn unterwegs?«, fragte Lea folgsam und fürchtete sich vor der Antwort.
»Mit einem Kaufmann, bei dem ich später, wenn ich groß bin, einmal in sein Geschäft eintreten kann. Und dann fahre ich mit ihm über die Meere. Natürlich nur, wenn ich das will«, sagte Moise ernsthaft.
»Das ist ja wunderbar«, erwiderte Lea heiter, drückte Moise immer wieder von neuem an sich und bemühte sich, Moises Zukunftspläne nicht zu zerstören. Auch wenn sie sich nicht mit ihren Plänen deckten, da sie immer noch auf einen Rabbi hoffte, auf den sie bisher nicht nur einmal gehofft hatte mit ihren Söhnen.
»Es ist ein jüdischer Kaufmann«, versuchte Moise Lea zu beruhigen, als er ihr Gesicht sah.
Lea sagte verlegen, dass ihr das egal sei, auch wenn es nicht stimmte. Es wäre ihr natürlich nicht egal gewesen. Aber das konnte sie im Beisein ihrer beiden Freundinnen gewiss nicht bekennen.
»Weißt du, sie haben in Livorno keine Marangonaglocke, nach deren Läuten sie die Tore schließen müssen«, sagte Moise eifrig. »Und nachts braucht man daher auch nie das Gefühl zu haben, dass man eingesperrt ist bis zum Morgengrauen. Wie in einem Gefängnis. Wie bei uns in Venedig.«
»Nein, sie haben hier keine Tore, die beim Glockenläuten verschlossen werden«, sagte Lea entschuldigend, so, als habe sie für Moise einst die falsche Stadt zum Leben ausgesucht und als sei nun zu erwarten, dass vor diesen Fremden nun eine ganze Serie von Untaten gebeichtet würden, die Christen Juden angetan hatten.
»Sie haben überhaupt keinen Chazer«, ereiferte sich Moise, »und es gibt ganz viele Volksfeste, zum Beispiel einen Merkurwagen oder eine macchina della cuccagna, das ist so etwas wie ein Schlaraffenland.«
»Aber eine Glocke haben wir schon«, mischte sich jetzt lachend der ältere Mann ein, dessen Stimme sie zuvor vermutlich gehört hatten, »und wir haben auch –«
»Und ich habe überhaupt auch eine Familie«, unterbrach Moise und schob seine Hand in die des Mannes. »Er ist einer meiner Onkel, und«, er lachte schelmisch und deutete auf die Leute hinter sich, »ich habe vier Tanten und viele Vettern und Cousinen. Eine große Familie.«
Alle lachten, eine der Frauen öffnete die Tür ganz und schob Lea und ihre Freundinnen in das Haus.
»Ich denke nicht, dass wir hier alles auf der Straße erzählen müssen. Kommt herein.«
Es wurde ein langer Abend, der damit endete, dass Lea Moise in ihren Gasthof mitnehmen konnte. Mit dem Versprechen, am nächsten Morgen noch einmal wiederzukommen.
»Ich durfte auch Steinchen auf Grabsteine legen«, berichtete Moise später schon halb im Einschlafen. »Es macht ja nichts, dass es nicht meine Eltern waren. Auf jeden Fall waren es Gräber meiner Familie. Und meine Bar-Mizwa darf ich in Livorno feiern, damit ich nicht diesen roten Judenhut tragen muss.«
Lea seufzte. »Ich denke, du solltest jetzt schlafen. Es ist ja noch lange Zeit bis dahin. Morgen reden wir weiter.«
»Morgen ist immer so schnell«, sagte Moise schläfrig. »Und mein Onkel Jonathan hat gesagt, dass er sich von jetzt an auch um mich kümmern wird. Und dass ich auch zu jeder Zeit Kantor werden kann, weil ich eine so wunderschöne Stimme habe.« Er blinzelte schon halb im Schlaf. »Du hast mir nie gesagt, dass ich eine wunderschöne Stimme habe«, sagte er vorwurfsvoll. Dann fielen ihm endgültig die Augen zu.
Lea seufzte ein zweites Mal. Es war klar, dass sie Moise von jetzt an zu teilen hatte. Mit seiner übrigen Familie. Die aus Bäckern, Kantoren, Kleiderverkäufern, Schreibern, Schammes, Briefträgern und Frauen bestand, die dieses neue Mitglied ihrer Familie mit seinen venezianischen Freunden mit Liebe aufgenommen hatten.
Die Heimreise war das genaue Gegenteil der Hinreise. Ständig redeten alle durcheinander, erzählten sich gegenseitig all das, was an
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