Stadt der Blumen strava3
Sulien sah ihn fragend an, doch in dem Augenblick fing eine Glocke in dem Turm über ihnen zu läuten an und all die anderen Fratres – oder dafür hielt Sky sie zumindest – legten ihre Geräte nieder und begaben sich zu einem Bo
gengang in einer Ecke.
»Gebetszeit«, sagte Sulien. »Das Stundengebet Terz. Aber heute werde ich es auslassen und dich in die Stadt mitnehmen. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Der Aal war sehr zufrieden mit sich selbst. Er hatte ein bequemes Quartier, reich
lichen Lohn und nur die besten Speisen und Getränke. Aber was ihm am meisten Genugtuung verschaffte – er hatte Macht. Als rechte Hand des Herzogs hatte er das Gefühl, sich nur einen Herzschlag vom Sitz der Regierung entfernt zu befin
den. Und dabei hätte es alles ganz leicht anders kommen können; vor einiger Zeit hatte er noch gefürchtet, dass ihn Herzog Niccolò nach der Geschichte in Remora beseitigen lassen könnte, indem er ihm die Gurgel durchschneiden ließ.
Stattdessen trug der Aal jetzt Samtgewänder in seiner Lieblingsfarbe Blau, hatte einen Hut mit einer geschwungenen Feder auf und ein eigenes Pferd in den Stal
lungen des Herzogs. Er machte zwar keine so besonders beeindruckende Figur, wie er glaubte, denn er war klein und etwas schmächtig. Aber er war mit seinem neuen Leben höchst zufrieden, vor allem mit seiner kleinen Schar von Spitzeln.
Giglia gefiel ihm sogar noch besser als Remora und viel besser als Bellezza. In kürzester Zeit hatte er sich alle Straßen, Plätze und Gassen eingeprägt, vor allem die Gassen – denn der Aal war eher ein Gassen-Typ, auch wenn die breiten Stra
ßen und Alleen sein Wunschtraum waren. Doch auf den großen Prachtstraßen konnte man nicht unbemerkt herumschleichen, und gerade das war ja seine Spe
zialität.
Bruder Sulien führte Sky durch den Torbogen in der Ecke des großen Kreuzgangs in einen kleineren Kreuzgang und von dort durch eine Tür in die Kirche. Im Hin
tergrund konnte Sky eine größere Anzahl schwarz gekleideter, kniender Fratres sehen und das leise Gemurmel von Stimmen hören. Er hatte kaum Zeit, sich an das Dämmerlicht im Inneren der Kirche zu gewöhnen, da waren sie schon wieder draußen im Sonnenschein unter einem strahlend blauen Himmel.
Sky atmete tief ein und sah sich um. Die Fassade der Kirche ging auf einen gro
ßen Platz, an dessen beiden Enden jeweils ein seltsamer hölzerner Pfosten in der Form einer länglichen Pyramide stand. Es gab keine Autos oder Busse oder Mo
torräder. An der gegenüberliegenden Seite des Platzes standen ärmlich wirkende Häuser und Läden und dazwischen immer wieder prächtige Gebäude, die inmit
ten der anderen Häuser wie Rassepferde unter lauter abgetakelten Mähren aus
sahen. Eindeutig eine lang vergangene Zeit, dachte Sky. Dazu kam das gleißende Sonnenlicht, das eine Wärme mit sich brachte, die für einen englischen März un
gewöhnlich war, selbst wenn er sonnig sein konnte. Eindeutig Italien, dachte Sky.
Rasch gingen sie eine Straße entlang, deren Gossen vor Unrat überquollen, und Sky konnte nicht umhin, den ungesunden Gestank nach verfaultem Grünzeug und Schlimmerem zu bemerken. Zwei junge Herren ritten vorüber; es waren of
fensichtlich Adlige, da ihnen jeder Platz machte, während sie miteinander redeten und überhaupt nicht auf die Leute achteten, die sich vor den Hufen ihrer Pferde herumtrieben. Sky bemerkte, dass sie beide an ihren Gürteln lange Schwerter trugen, und er erinnerte sich an die Gefahr, von der Sulien gesprochen hatte.
Nach einem kurzen Spaziergang hielten sie vor dem größten Bauwerk, das Sky je gesehen hatte. Aus dem Kunstunterricht an der Schule kam es ihm allerdings bekannt vor.
»Das ist doch Florenz, oder?« Sky freute sich, dass er erkannt hatte, wo er sich befand.
»So ähnlich nennt ihr es wohl, aber bei uns heißt die Stadt Giglia«, verbesserte ihn Sulien geduldig. »Die Stadt der Blumen nennen wir sie, wegen der Wiesen in der Umgebung, die ihr solchen Reichtum bringen. Ihr und der Familie di Chimici«, setzte er hinzu, indem er die Stimme senkte. Dann fuhr er mit normalerer Stimme fort: »Man könnte sie genauso gut die Stadt der Wolle nennen, denn fast genauso großer Reichtum kommt von den Schafen, aber das klingt ja viel weniger hübsch, nicht wahr?«
Das ist ja wie in Alice im Wunderland, dachte Sky. Es scheint eine Logik zu geben, aber irgendwie passt sie nicht ganz.
»Und das ist die schönste Blume von allen«, sagte Sulien und starrte zu der ausladenden
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