Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Handgelenk zum Vorschein kam. Sie war Linkshänderin. Sie hatte sich die Pulsader aufgeschnitten, wahrscheinlich mit einer Silberklinge – eine dramatische, aber auch vollkommen vergebliche Geste. Damit ein Gestaltwandler verblutete, brauchte es schon ein bisschen mehr als einen kleinen Schnitt. Sie sah mich an und bemerkte offenbar nicht, was ihre Hände gerade taten. »Max hat gesagt, Sie würden das verstehen.«
Oh Mann. Aber selber zu mir zu kommen – das kam für ihn nicht infrage, wie?
Ich sah sie an. Sie wirkte vollkommen aus dem Gleichgewicht. Genau diesen Blick hatte ich schon einmal auf ihrem Gesicht gesehen, drei Monate zuvor. Das war, nachdem der Upir von Red Point in der Festung des Rudels angerufen hatte. Curran und ich hatten endlich herausgefunden, wer er war, und ihm gefiel die ganze Situation überhaupt nicht. Er hielt einer Frau einen Telefonhörer an den Mund, damit Curran alles mit anhören konnte, und riss sie dann in Stücke, bis sie tot war. Die Frau war eine von Currans Exfreundinnen gewesen. Ich war bei diesem Anruf dabei, und als ich anschließend zu meinem Zimmer zurückging und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, sah ich Myong durch eine offen stehende Tür, wie sie die Arme um sich schlang, den nämlichen Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit auf dem Gesicht wie ich.
Bei dieser Erinnerung durchströmte mich ein Gefühl – das Gefühl, zu dumm zu sein, um zu erkennen, was direkt vor meiner Nase vor sich ging, das Gefühl, ganz allein zu sein, schreckliche Angst zu haben, gejagt zu werden und dabei einen idiotischen Fehler nach dem anderen zu begehen, während rings um mich her Menschen starben. Es schnürte mir die Kehle zu. Mein Puls raste, und ich schluckte und musste mich daran erinnern, dass es vorüber war, dass ich es überlebt hatte. Damals, als mir das Wasser bis zum Halse stand, als ich zu versinken drohte, hatte mir Crest einen Strohhalm hingehalten, und beinahe hätte ich Crest mit mir in die Tiefe gerissen. Er hatte es verdient, glücklich zu sein. Und zwar ohne mich.
»Ich werde ihn fragen«, sagte ich.
Sie atmete auf. »Danke.«
»Aber ich weiß nicht, ob ich Curran überzeugen kann. Euer Herr und ich neigen dazu, einander zur Weißglut zu treiben.« Und jedes Mal, wenn wir aufeinandertrafen, war dabei etwas von mir zu Bruch gegangen. Meine Rippen, mein Dach, mein Hamme r …
Den letzten Satz hatte sie überhört. »Wir kriegen das schon hin. Vielen, vielen Dank. Wir sind Ihnen sehr, sehr dankbar.«
» Besuch im Anmarsch «, warnte mich Maxines Stimme in meinem Kopf.
Eine schlaksige Gestalt erschien an der Tür meines Büros. Der Mann war knapp eins achtzig groß und trug eine hellblaue Jeans und ein helles T-Shirt. Sein braunes Haar war kurz geschoren. Er hatte ein frisches, ebenmäßiges Gesicht und samtbraune Augen mit unglaublich langen Wimpern. Wäre der maskuline, kantige Kiefer nicht gewesen, hätte man ihn geradezu als »hübsch« bezeichnen können. Der Vorteil daran war: Wenn er sich jemals durch einen Raum voller junger Frauen hätte kämpfen müssen, hätte er nur ein paarmal mit den Wimpern zu klimpern brauchen, und sie alle wären auf der Stelle ohnmächtig zu Boden gesunken.
Doch seine Schönheit und seine attraktiv umschatteten Augen waren irreführend. Derek war mordsgefährlich. Er hatte in seinem achtzehnjährigen Leben mehr Leid gesehen als andere Leute in einem halben Jahrhundert, und das hatte ihn stahlhart werden lassen. Ich hatte ihn seit der Red-Point-Sache nicht mehr gesehen. Damals war es mir mit meiner großen Klappe gelungen, dass man ihn mit einem Bluteid verpflichtete, mich zu schützen. Curran hatte ihn später von diesem Eid entbunden, doch ein mit Blut besiegeltes Gelübde löste sich nicht so einfach in Luft auf. Es wirkte nach. Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass ich die Rangordnung des Rudels auf die leichte Schulter genommen hatte.
»Kate, hallo«, sagte Derek mit sanfter Stimme. »Myong? Was machst du denn hier?«
Myong sprang vom Stuhl auf und schreckte vor ihm zurück. Sie duckte sich, wie um einem Schlag auszuweichen, und blickte starr zu Boden.
Na prima, damit war ja wohl klar, wer von den beiden im Rudel der Ranghöhere war.
»Sie müssen ihm nicht antworten«, sagte ich. »Was man einem Vertreter des Ordens mitteilt, wird vertraulich behandelt. Allenfalls ein Gericht kann die Herausgabe dieser Informationen verlangen.«
Sie stand einfach nur geduckt da, den Blick zu Boden gewandt. Es war kein
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