Stadt der Liebe
nicht in einem Jahr zum Herrn der Welt geworden? War nicht ein Tag, ja, eine Nacht nur für Cleopatra entscheidend? Schlug Alexander nicht in sieben Stunden seine Schlacht bei Issos? Durchhaute er nicht in einem Augenblick den gordischen Knoten?
Du hast noch zwei Jahre, Chartier – 730 Tage; 17.520 Stunden; 10.512.000 Minuten.
Wahrlich eine Ewigkeit.
Langsam ließ sich der kranke Dichter noch weiter auf die Bank zurückgleiten, bis er liegend zum Himmel zwischen den Zweigen hinaufblicken konnte. Er verschlang die Hände unter seinem Nacken, schloß dann die Augen, und der Sturm in seinem Inneren legte sich.
Die Stille des Parks besänftigte sein Herz, der Duft der Blumen trug auch dazu bei. Das Rascheln der Blätter, das der leise Wind verursachte, ließ ein dankbares Lächeln in seinem Gesicht aufblühen über die einzige wahre Geliebte aller: die sich an jeden verströmende Natur.
Zwei Jahre, in denen sich Frankreich durch seine Kunst würde wandeln können. Zwei Jahre, in denen der Dauphin Frankreich würde mehr lieben lernen können als die verblendeten Begriffe von Absolutismus und herrscherlicher Willkür. Zwei Jahre, in denen Alain Chartier unsichtbar – nur lebend durch seinen Geist – die Geschicke Frankreichs würde mit lenken können. Zwei Jahre, die alle Wonnen des Lebens würden trächtig werden lassen können wie überreife Früchte, die auf der schmeckenden Zunge zergingen. Oder gar drei Jahre!
Alain Chartier schreckte auf.
Was sind das für Gedanken, fuhr es ihm durch den Kopf. Ich wollte doch von alldem gar nichts wissen, habe es weit von mir gewiesen. Bin ich verrückt?
Aber das Schicksal hatte schon begonnen, wirksam zu werden.
Und immer schwerer senkte sich der Duft der Blumen auf des Dichters Sinne und fing an, diese in seine Gewalt zu bekommen, sie zu betäuben. Die Stille des Parks tat ihr übriges. Das Rascheln der Blätter wurde zum einschläfernden Säuseln. Die Sonnenstrahlen ersetzten mit ihrer Wärme eine Decke. Dies alles zusammen erzielte ein unvermeidliches Resultat:
Auf einer Bank im Park schlief Alain Chartier …
Da lag er nun auf hartem Holz, die Knie angezogen, die Wange seitlich in die rechte Hand genistet, eingehüllt ins zärtliche Schattennetz der Bäume.
Alain Chartier träumte.
Das tat er oft. – Man könnte sogar sagen, daß Alain Chartier die Zeit der letzten Jahre eher im Traum als im Wachzustand durchlebt hatte. Auf seiner Bank im Park hielt er die Lippen halb geöffnet wie ein schlafendes Kind. Und wie Kinder träumte Alain auf besondere Weise. Stets mischten sich in Träumen Wirklichkeit und Fantasie, Kinder aber denken träumend über Träume nach, so stark wird in ihnen die Wirklichkeit. Für Alain Chartier meldete sie sich in immer gleichen, unerlösten Bildern.
Reiter sah er.
Viele, viele Reiter in flimmernder Rüstung.
Dahinter Soldaten. Und wieder Reiter. Den Männern voran flatterte eine weiße Standarte. In sie war das Bild des Erlösers gestickt. Und um das weiße Tuch kreisten Wolken weißer Falter.
Das ist doch unmöglich, dachte der schlafende Alain Chartier. Schmetterlinge? Und auch noch ganze Wolken davon? Wer hat das in dieser Gegend und um diese Zeit, im frühen Mai, je gesehen?
Und außerdem: Der Himmel war nicht blau gewesen, nein, überhaupt nicht – auch daran erinnerte sich der träumende Chartier ganz genau. Grau war er, grau wie Hafergrütze. Und ihre Standarte flatterte in einem kalten Nordwind.
Sie saß im Sattel, als sie von Chinon wegritt, ließ den schwarzen Rappen auf dem Schloßhof tänzeln, saß im Sattel wie ein Mann, wie ein Mann auch angetan mit Harnisch und eisernen Arm- und Beinschienen, hielt ihre Standarte in der kleinen, gepanzerten Faust und lachte zu ihm herab.
»Lebt wohl, Alain! – Und haltet die Tinte feucht.«
»Gott sei mit dir, Jeanne!«
Bewunderung zerriß sein Herz. Oh, was hatte er sie verehrt in dieser Sekunde.
»Das ist er. Da macht Euch keine Sorgen.«
Und sie lachte wieder und zog mit dem Heer in den grauen, regenverhangenen Morgen, um die Engländer davonzujagen, die Orleans belagerten. Alain aber betete. Nie im Leben hatte er mit so viel Inbrunst gebetet wie an diesem Tag.
Viele hatten noch Jahre später die Geschichte mit den Faltern bezeugt. Die Wolken seien aufgerissen, so sagten sie, und von allen Seiten, aus allen Richtungen eines strahlendblauen Sonntagshimmel seien die Schmetterlinge herbeigeströmt zu ihrem Tanz um Jeanne d'Arcs Standarte.
Eine weiße Erlöser-Standarte im
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